Wer schafft einen „europäischen Salon“?

Zunächst gab es Bücher, dann die Presse und schließlich das Internet. Seit fast zwei Jahrhunderten fördert ein virtueller Diskussionsraum die Demokratie. Den Europäern heute fehlt aber ein Platz für gemeinsame Debatten, bedauert Dagens Nyheter.

Veröffentlicht am 27 März 2012 um 09:42

Vor 150 Jahren, zu Zeiten meiner Ur-Ur-Urgroßmutter, war noch kein einziges europäisches Land eine Demokratie. Das allgemeine Wahlrecht wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt, für Frauen noch später. Schweden gehörte zu den Nachzüglern. Für die Länder war diese Reform mit einem großen Umbruch verbunden. Die lang anhaltende Forderung nach Veränderungen führte zum Erfolg.

Der Druck kam dabei nicht aus den Reihen der Macht, sondern ging von der freien Presse und den Gewerkschaften aus oder wurde in Romanen oder auf Theaterbühnen ausgeübt. Der demokratische Durchbruch folgte auf eine Medienrevolution, die sich nur wenig von der heutigen unterschied.

Mit der Demokratie konnten sich immer mehr Ideen entwickeln. Menschen, die sich für ihren Standpunkt vorher nie Gehör verschaffen konnten, hatten nun ein Wörtchen mitzureden und konnten wählen. Zum ersten Mal öffneten sich die Türen eines großen „ virtuellen Salons”. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts kamen in der Öffentlichkeit, in Zeitungen und Briefwechseln neue Ideen über die zukünftige Gesellschaft auf.

Demokratie beginnt mit öffentlicher Debatte

Die freie Presse – ein berauschendes Abenteuer, das sich im 19. Jahrhundert im neu entstandenen Diskussionsraum entwickelte – ist mit dem Internet von heute vergleichbar. Unser Umfeld ist nun zu einer greifbaren Realität geworden.

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Demokratie beginnt mit öffentlicher Debatte. Erst mit dem Arabischen Frühling wurde wirklich deutlich, dass durch das Internet Kommunikationswege geebnet werden, die einen Prozess auslösen. Aber was geschieht innerhalb der Europäischen Union? Wir hören heute sehr oft, dass es ohne eine starke und vertrauenswürdige Zentralmacht keine gemeinsame Währung wie den Euro geben kann. Die Zentralisierung der Regierungsgewalt wurde mit Hilfe neuer Regeln Schritt für Schritt verstärkt. Aber die Demokratie, die Europa als sein Herzstück bezeichnet, ist immer noch zu diskret. Wo sind die großen Debatten, welche die Europäer gemeinsam führen?

Die Europäische Union ist in den Medien allgegenwärtig, Stunde um Stunde, Gipfel um Gipfel, eingeteilt in verschiedene Rubriken: Misserfolge, Misstrauen, bevorstehende Katastrophen. Ihre Politik ist vorrangig von Aggressionen zwischen Ländern geprägt. Wir Europäer nehmen davon durch unser nationales Fernsehen und unsere Presse Kenntnis und klammern uns an unsere nationalen Vorstellungen. Von früh bis spät liefert man uns Reportagen, in denen die Griechen die Deutschen oder die Deutschen die Griechen angreifen.

Bei Zeitungsverkäufern mit großer Auswahl, wo sich die Regale unter der Last ausländischer Zeitungen biegen, sucht man vergeblich nach einer Zeitung der europäischen Meinung. Man findet lediglich Geschichtszeitschriften in Deutsch oder Englisch, die sich mit der vergangenen Größe der jeweiligen Nation beschäftigen. In einer Spezialnummer untersucht die Zeit „den Einfluss Friedrichs des Großen”, während BBC History „Alles, was sie über das britische Empire wissen müssen” feilbietet.

Eingesperrt im nationalen Bezugsrahmen

Aber wo spricht man über die Gemeinsamkeiten Europas oder dessen Geschichte, die über die einzelnen Nationen hinaus existiert? Trotz nationaler Eisenbahngesellschaften haben wir doch die schwindelerregende Erfahrung der ersten Zugreisen gemeinsam. Und die Eisenbahn hat die Länder einander nähergebracht. In den europäischen Hauptstädten hat man fast immer zur gleichen Zeit und nach fast identischen Plänen Nationalmuseen errichtet. Ebenso war der Kampf um das Wahlrecht grenzüberschreitend.

Dennoch wird die Geschichte nach ethnischem und nationalem Ursprung sortiert. In den Bibliotheken findet man die schwedische Kunst und Geschichte auf einem Regal und die Dänemarks auf einem anderen, so als wären sie komplett verschieden. Das gleiche trifft auf die Musik, Wirtschaft und Politik zu, obwohl in Wahrheit weder Ideen, noch Geld oder Melodien an Grenzen halt gemacht haben.

Europa muss sich neuen Herausforderungen stellen. Die von früheren Nationalismen erfundenen Gemeinschaften sind aus dem Schlaf erwacht und brüllen nun, dass man diejenigen, die „hier nichts zu suchen haben, aus dem Land vertreiben und nach Hause schicken muss”. Wann kommt der Tag, an dem eine große europäische Gemeinschaft und Öffentlichkeit entsteht? Wann werden die Europäer einen öffentlichen Dialog über die europäischen Gipfel hinaus fordern? Wann wird es eine Diskussion geben, bei der es nicht um das Gewinnerland des Eurovision Song Contest geht? (mz)

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