Nachrichten Tschechische Republik
Vor einem Cannabis-Eisstand beim "Million Marijuana March". Prag 2009. Foto: Greensky sk

Appetit auf Cannabis

Seit dem ersten Januar dürfen die Tschechen sorgenfrei geringe Mengen an Betäubungsmitteln besitzen. Das ist in einem Land, in dem Haschisch fast zum Alltag gehört, auch eigentlich nicht erstaunlich, findet der polnische Journalist Mariusz Szczygiel.

Veröffentlicht am 15 Januar 2010 um 15:04
Vor einem Cannabis-Eisstand beim "Million Marijuana March". Prag 2009. Foto: Greensky sk

Vor zehn Jahren war ich darüber erstaunt, im hippsten Feinkostladen Prags einen Marihuana-Wodka zu finden. In einem öligen, flachsfarbenen 40-prozentigen Alkohol schwammen Cannabissamen. Ich war auch darüber erstaunt, dass im benachbarten Buchladen ein Buch mit dem Titel "Wir kochen mit Cannabis" verkauft wurde. Noch mehr erstaunte mich, dass sich der Autor des Buches bei der Frage, ob man Cannabis besser rauchen oder essen sollte, fürs Essen entschied. Denn wenn man Gras raucht, wirkt es sofort oder innerhalb von fünf Minuten, wobei die Wirkung zwei Stunden anhält. Löst man es aber in einer Speise auf, beginnt es erst eine halbe bis anderthalb Stunden später zu wirken, allerdings diesmal acht Stunden lang.

Es erstaunte mich, als mir die Buchhändlerin anvertraute, dass das Kochen mit Cannabis in der Tschechischen Republik noch sehr rudimentär sei. Die Leute benutzten es irgendwie und mischten zufällige Mengen mit verschiedenen Gerichten, dabei sollte man bestimmte Speisen, die extra auf das Marihuana abgestimmt sind, verwenden. Daher sei das Buch so unentbehrlich. Ich war darüber erstaunt, als der Gerichtshof von Olomouc nach mehreren Jahren des Prozesses den Verlag des Buches freisprach und dessen Verbreitung genehmigte. Ich war erstaunt, als ich erfuhr, dass die ersten Forderungen nach der Legalisierung von Cannabis nur einige Wochen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im Studentenblatt Zverdlo laut wurden.

Vaclav Havel, Grasliebhaber

Ich war darüber erstaunt, dass der Präsident Havel im Jahr 2000 einem 19-Jährigen die Strafe erließ, der sein Gras zwei Jungen angeboten hatte, die jünger als er selbst waren und dafür zu vier Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden war. "Ich könnte mein Spiegelbild nicht mehr ertragen", soll der Präsident erklärt haben, der selber Gras rauchte. Ich war darüber erstaunt, dass in der Psychiatrie der Medizinischen Fakultät der Charles-Universität in Prag ein Lehrstuhl für Suchtwesen geschaffen wurde, der auch sofort wissenschaftliche Studien über Marihuana und dessen Genuss aufnahm.Es erstaunte mich, als ich erfuhr, dass die Tschechen in Europa noch vor den Niederländern die größten Konsumenten von Cannabis sind. 2004 rauchte jeder zehnte Europäer und jeder fünfte Tscheche Marihuana. Ich war darüber erstaunt, dass der Konsum von harten Drogen in der Tschechischen Republik erheblich zurückgegangen ist, seitdem die Behörden über den Konsum von Cannabis hinwegsehen.Ich war darüber erstaunt, dass es sich mit dem Bierkonsum genauso verhält. Anscheinend konsumieren die Tschechen weniger hochprozentigen Alkohol je mehr Bier sie trinken. Es erstaunte mich, dass eine formal verbotene Droge wie Marihuana in der Tschechischen Republik Gegenstand zweier offiziellen Zeitschriften sein kann, nämlich von Konoptikum und Soft Secrets.

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Ich war darüber erstaunt, dass die ersten Ratschläge zum Anbau von Marihuana zu Hause mit künstlichem Licht Anfang der 90er Jahre in der renommierten Wochenzeitung Reflex erschienen, und zwar als Ratgeber für Parkinson-Patienten, die mit dieser Pflanze behandelt werden können. Ich war darüber erstaunt, dass die gleiche Zeitschrift seit 2004 alljährlich einen Wettbewerb für das beste Photo von selbst angebautem Marihuana organisiert, den Reflex Cannabis Cup. Die Photographien nehmen in den vier Kategorien Indoor, Outdoor, Schönheit und Ikebana teil. Es erstaunte mich, dass jedes Jahr ungefähr tausend Fotografien eingehen und dass ihre Urheber anonym bleiben, selbst wenn sie einen Preis gewonnen haben. Nur die Hälfte der Jury-Mitglieder wird öffentlich bekannt gegeben. Darunter befinden sich bekannte Persönlichkeiten, die nicht viel über Marihuana wissen, und Unbekannte, die absolut alles über den Eigenanbau wissen.

"Die Tschechen haben eine schöne Kultur"

Ich war darüber erstaunt, dass die erste Auswahl an Fotos vom Chefredakteur der Wochenzeitung höchstpersönlich vorgenommen wird (der mir, nachdem er den Film "Katyn" von Andrzej Wajda im tschechischen Fernsehen sah, eine Mail schrieb: "Die Tschechen haben eine schöne Kultur, aber die Polen eine schöne Seele").Ich war darüber erstaunt, dass die Zeitschrift in einer Sonderausgabe darauf aufmerksam macht, dass die Verwendung dieser Droge vor dem 16. Lebensjahr verhängnisvoll ist und bei Jugendlichen zur Psychose führen kann, dass man bei Gerichten leicht überdosieren kann, dass sie auch geraucht gefährlich ist und wie jeder eingeatmete organische Stoff krebserregend ist. Es erstaunte mich, dass die Redaktion zum "NICHT RAUCHEN" rät. Es wird empfohlen, einen Marihuana-Inhalator zu verwenden, der vor den sehr schädlichen teerhaltigen Substanzen schützen soll. Als ich erfuhr, dass der Anbau von Cannabis für den persönlichen Gebrauch (bis zu fünf Pflanzen) und der Besitz von geringen Drogenmengen (zum Beispiel bis zu 15 Gramm Cannabis) seit dem 1. Januar in der Tschechischen Republik nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden, war ich nicht erstaunt.

Reise

Der Narkotiko-Tourismus läuft gut

Seitdem die Tschechen den Besitz von geringen Drogenmengen entkriminalisiert haben, "hat die polnische Jugend die tschechischen Bars und Clubs an der Grenze eingenommen", stellt Polska fest. "In der Tschechischen Republik ist es nun erlaubt 15 Gramm Marihuana, 1,5 Gramm Heroin, 1 Gramm Kokain, 2 Gramm Amphetamin, vier Ecstasy-Pillen und 5 mit LSD getränkte Blättchen zu besitzen", erklärt die Tageszeitung. "Ein Problem ist, dass das, was in einem Land vor sich geht, in einem Europa ohne Grenzen unvermeidlich Auswirkungen auf alle anderen Länder hat. Die neue tschechische Gesetzgebung raubt den polnischen Lokalbehörden, der Polizei und den Personen, die sich für den Kampf gegen Suchtmittel in den Grenzstädten einsetzen, den Schlaf." Polska erinnert daran, dass die "Liberalisierung der Drogengesetze in Europa ein sich immer weiter ausbreitender Trend" ist. Länder, die wie z.B. Deutschland, Großbritannien, Griechenland, die Slowakei und Litauen zwischen 1999 und 2004 die Strafmaßnahmen verschärft haben, lockern diese heute wieder. Spanien, Belgien, Österreich, die Niederlande, einige der Schweizer Kantone und sogar die Ukraine haben ähnliche Maßnahmen wie die Tschechische Republik ergriffen.

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