Mars und Venus. Schule von Fontainebleau, 16. Jh.

Mars und Venus, zehn Jahre danach

Die Amerikaner glauben an den Gott des Krieges, die Europäer an die Göttin der Liebe, meinte Robert Kagan im Jahr 2002. Aber nach dem Krieg im Irak und in Afghanistan und der europäischen Krise haben sich die Vorzeichen für diese umstrittene These geändert.

Veröffentlicht am 11 April 2012 um 15:43
Mars und Venus. Schule von Fontainebleau, 16. Jh.

Es ist an der Zeit, dass wir uns über unsere Unterschiede klarwerden, behauptete Robert Kagan vor zehn Jahren und provozierte damit heftige Debatten. Die Amerikaner, so Kagan in seinem Artikel („Power and Weakness” [Macht und Ohnmacht], Policy Review 113/ 2002), stammten von Mars (dem Gott des Krieges), die Europäer von Venus (der Göttin der Liebe) ab.

Die Amerikaner lebten in einer hobbesianischen, von Gewalt geprägten Welt, während die Europäer sich in einem kantianischen, von Recht und Institutionen gekennzeichneten Universum bewegten (oder vorgeben sich zu bewegen). Während die Europäer bestrebt seien, sich von Gewalt und Macht zu befreien, setzten die Amerikaner beide Instrumente bereitwillig ein, um die Welt nach ihrem Bild zu formen.

Nach dem Kalten Krieg, erklärte Kagan, wollten die Europäer endlich in einer glücklichen Welt leben. Der 11. September zeigte jedoch, dass die Welt sich nicht an den Wunsch der Europäer gehalten hatte. Statt der Realität ins Auge zu sehen, wären die Europäer jedoch fest entschlossen, sie zu leugnen.

Neuer liberaler Interventionismus

Kagan machte aus seinem Artikel ein Buch mit demselben Titel [Macht und Ohnmacht, Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Siedler Verlag, Berlin 2003], das ebenfalls viel Tinte und Kritiken fließen ließ. Heute, ein Jahrzehnt später, veröffentlicht die Zeitschrift Policy Review, die den ursprünglichen Artikel abdruckte, eine interessante Retrospektive unter der Leitung von Robert Kagan (A comment on context, dt.: Kommentar zum Kontext, Policy Review 172/ 2012) sowie einen hochinteressanten Artikel von Robert Cooper (Hubris and False Hopes, dt.: Hybris und falsche Hoffnungen), einem der intellektuellen Architekten der europäischen Außenpolitik.

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Kagan erklärt in seinem Kommentar einige Details, die uns helfen, den ersten Artikel besser zu verstehen. So wurde der Text vor dem 11. September und damit auch vor dem Irakkrieg verfasst und war aus diesem Grund keinesfalls als Rechtfertigung des militärischen Eingriffs oder der Politik von Bush gedacht. Die Unterschiede zwischen Europa und den USA, so Kagan, seien strukturell und hätten sich schon zurzeit von Clinton offenbart. Die Regierung Bush hätte diese Kluft vertieft aber nicht geschaffen.

Als Kagan den Artikel verfasste, sei er sehr von Robert Cooper, einem Europäer, beeinflusst worden. Der britische Diplomat beriet zehn Jahre lang Javier Solana [von 1999 bis 2009 Generalsekretär des Rates der Europäischen Union und Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)] und ist ebenfalls Autor eines umstrittenen Buchs, The Post-Modern State [„Der postmoderne Staat” (2002)], in dem er sich für einen „neuen liberalen Interventionismus” einsetzt.

Beiderseits ist Demut angesagt

Die europäischen Demokratien, so Cooper, dürften nicht länger davor zurückschrecken, militärisch im Ausland einzugreifen und die Werte der liberalen Demokratie zu verteidigen. Die Welt bestehe nicht nur aus postmodernen Einheiten wie der Europäischen Union, sondern auch aus modernen Staaten und gescheiterten Staaten, die nach den klassischen Parametern der Gewalt und der Macht regiert werden.

Dass Kagans Kritik an der europäischen Einstellung zum Einsatz von Gewalt auch in Europa unterstützt wurde, ist sehr interessant, stellt dies doch die angeblich permanenten und unüberbrückbaren Differenzen zwischen Amerikanern und Europäern in Frage.

Noch interessanter ist allerdings die Schlussfolgerung, die Cooper ein Jahrzehnt später in Bezug auf das Ergebnis der „Kollision” zwischen Mars und Venus zieht. Seit den missglückten Eingriffen in Afghanistan und Irak sind die USA Opfer der „Schwäche der Macht”: Ihre immense militärische Schlagkraft habe ihnen wenig gebracht und ihnen letztendlich nur eine bittere Lektion in Bescheidenheit erteilt.

Während die USA gelernt hätten, sich nicht nur auf Gewalt zu verlassen, sondern auch auf Politik, Legitimität, Staatsaufbau und Recht zu setzen, sei die postmoderne kantianische Welt am anderen Atlantikufer mit ihren Werten auch nicht weitergekommen. Beiderseits ist Demut angesagt. Könnte es sich um ein Unentschieden zwischen Venus und Mars vor dem Hintergrund des aufstrebenden Chinas handeln?

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