Die Augen voll Brüssel und Straßburg. Serbien vor dem Beitritt (Presseurop, James Hill)

Übermannt vom Schlaraffenland

Seit dem 19. Dezember brauchen die Serben kein Visum mehr, um in die Länder der Europäischen Union einzureisen. Das war für Einige die Gelegenheit, ihr Land zum ersten Mal zu verlassen.

Veröffentlicht am 1 Februar 2010 um 15:00
Die Augen voll Brüssel und Straßburg. Serbien vor dem Beitritt (Presseurop, James Hill)

Selbst die hartgesottensten Euroskeptiker glauben nicht mehr daran, dass die Serben beim Eintritt in die EU ihre kyrillische Schrift aufgeben müssten oder dass Brüssel Spezialeinheiten aufs serbische Land schicken würde, um Jagd auf diejenigen zu machen, die es immer noch wagten, mit ihrem Destillierapparat Slivovitz herzustellen. Sie glauben auch nicht mehr daran, im Gegensatz zu dem, was ihnen die konservativsten Kreise der orthodoxen Kirche eingetrichtert haben, dass sich die Serben nach ihrem Eintritt in die EU anders als mit drei Fingern bekreuzigen müssen. Es stimmt schon, dass 20 Prozent der Serben befürchten, ihre kulturelle Identität zu verlieren, aber keiner kann sich vorstellen, dass die Brüsseler Beamten den Heiligen Sava [den wichtigsten politischen, kulturellen und religiösen serbischen Heiligen des 13. Jahrhunderts] aus den serbischen Herzen und Köpfen vertreiben könnten.

Direkt nach der Abschaffung der Visapflicht für die EU im letzen Dezember sind um die fünfzig Serben mit ihrem Vizepremier Bozidar Djelic nach Europa geflogen. Es war für sie das erste Mal. Sie waren die Sieger des von der Regierung organisierten Preisausschreibens "Europa für alle". Sie fuhren nach Straßburg und Brüssel, um sich die europäischen Institutionen anzusehen. "So habe ich mir Europa nicht vorgestellt, es ist sehr eindrucksvoll", sagt Zoran Djuricic, 46-jähriger Feuerwehrmann aus Uzice (im Westen Serbiens). Er hat beschlossen, bei seiner Rückkehr seine soeben 18 Jahre alt gewordene Tochter dazu zu ermuntern, Fremdsprachen zu lernen und zu reisen. Hadzi Marinko Mijovic, der auch 1963 geboren wurde, kommt aus Novi Sad, wo er Busfahrer ist. Auch er ist von dem, was er gesehen hat, beeindruckt, vor allem, was die Technologie betrifft. "Europa ist Fortschritt", sagt er. Er hofft, dass sein 13-jähriger Sohn und seine 15-jährige Tochter in großem Maße von dem durch Europa ermöglichten Güter- und Ideenaustausch profitieren können.

Kriegserinnerungen

Goran Joksimovic aus Sremska Kamenica (im Norden), Jahrgang 1968, ist Polizist. "Früher konnte ich nicht reisen, denn die Polizeibeamten durften keinen internationalen Reisepass besitzen. Dann wurde das Verbot aufgehoben, was auch nicht gerade weiterhalf, weil man ein Visum benötigte. Außerdem hatten wir eh kein Geld zum Reisen. Alles, was ich über Europa wusste, war aus den Medien. Die Dinge aber mit eigenen Augen zu sehen, ist etwas ganz anderes." Für die europäische Zukunft Serbiens gibt es für den Polizisten keinen Zweifel. "Ja, unser Patz ist in Europa. Geographisch gehören wir schon dazu, jetzt müssen wir uns für den Rest noch ein bisschen anstrengen", sagt er. Der Älteste der Gruppe war mit seinen 70 Jahren Petko Zoric. Er ist Sportlehrer in Rente und gelegentlicher Satiriker und definiert sich als "euroskeptisch". Er wirft den Europäern ihre Rolle in der "Zerstörung Jugoslawiens" und die Bombardierung Serbiens vor [1999 führte die NATO einen elfwöchigen Luftangriff durch, um den Kosovo-Krieg zu beenden]. Wie sieht er heute die Zukunft Serbiens innerhalb der Europäischen Union? "Es ist wie ein Wettlauf, sagen wir über 1500 Meter. Die anderen Länder der EU haben 1000 Meter Vorsprung vor Serbien und wir müssen trotzdem antreten…"

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