Europa fehlt es an mobilisierenden Projekten. DR

Kein Sternenhimmel in den Augen

Niemand sollte sich über die erwartete Rekord-Wahlenthaltung wundern, schreibt Il Sole 24 Ore. Eingepfercht in seine wirtschaftlichen und geopolitischen Prioritäten gibt das als Nachkriegsaussöhnung geborene Projekt keinen Anlass mehr zum träumen.

Veröffentlicht am 5 Juni 2009 um 16:47
Europa fehlt es an mobilisierenden Projekten. DR

Seitdem wir 1979 begonnen haben, unsere Europa-Abgeordneten direkt zu wählen, stieg ihre legislative und budgetäre Macht in dem Maße wie das Interesse der Wähler sich nach und nach auflöste. Die Wahlbeteiligung, die damals bei 62% lag, war 2004 auf 45,4% zusammengeschrumpft. Immer wieder wird gesagt, dass Europa ein mysteriöses und weit entferntes Objekt sei. Das stimmt so nicht. Sicherlich ist es manchmal unverständlich, aber auf keinen Fall weit entfernt. 80% unserer nationalen Gesetzgebung entspringen den EU-Vorgaben, welche gemeinsam vom Europäischen Parlament und dem Ministerrat verabschiedet wurden. Der Euro als Währung, Zinsen, Kampf gegen die Inflation und Riesendefizite, Studium, Reisen ohne Pass, Sicherheitsnormen, Umweltschutz, Konsum: in all diesen Bereichen und in vielen anderen ist Europa Teil unseres täglichen Lebens.

Wenn es Europa nicht gäbe, müsste man es erfinden. In den Stürmen, die in letzter Zeit über uns hereingebrochen sind, erwies es sich als unverhoffter Schutzschild. Man denke nur an die Globalisierung, den Aufstieg Chinas, Indiens und Brasiliens Kolosse oder die große sozioökonomische Krise. Das Grundmodel ist sicherlich nicht vollkommen, aber Europa ist ein wichtiger regionaler Stoßdämpfer für die Länder, deren nationale Souveränität nicht mehr allein gegen die großen Weltunruhen ankommen kann.

Dennoch wird Europa von den Menschen nicht verstanden und löst nur Teilnahmslosigkeit aus. Oder sogar offene Feindseligkeit. Nach der letzten vor einigen Tagen veröffentlichten Umfrage von TNS Opinion wird nur die Hälfte der Wählerschaft zur Wahl gehen (49%). Wenn man davon ausgeht, dass die letzten Prognosen stimmen, bleibt der Widerspruch unlösbar, der in der wachsenden Abkehr der Europäer von einer Union besteht, die keines ihrer 27 Mitgliedstaaten schlecht behandelt oder ignoriert.

Warum nur wird Europa immer unattraktiver?

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Dafür gibt es viele Gründe. Der überzeugendste ist vielleicht auch der paradoxeste: Die Versöhnung nach den Kriegen, die Gleichberechtigung der unterschiedlichen Herkünfte hat sich nach und nach in einer grandiosen wirtschaftlichen und kulturellen Success-Story aufgelöst. Heutzutage steht Europa auf dem ganzen Kontinent nicht nur für Frieden, sondern vermittelt eine pazifistische Kultur, die fast alles – dies sei nebenbei gesagt – den amerikanischen Steuerzahlern verdankt, die schon seit jeher seine Verteidigung finanzieren.

Wenn man dem europäischen Projekt seine allgemeine, von allen leicht zu verstehende und zu teilende Berechtigung nimmt, bleibt nicht mehr viel von ihm übrig. Es ist kalt geworden, technokratisch, zu einer unglaublich komplizierten Maschine mutiert, die kontinuierlich Vorschriften, Verbote und aufdringliche Kontrollen ausspuckt. Das europäische Projekt kann man so zusammenfassen: gemeinsamer Markt und gemeinsame Währung. Es hat auch einige (Halb-) Erfolge vorzuweisen, aber nichts, was einen träumen lassen könnte.

Die forciert schnelle Osterweiterung und als Begleiterscheinung der Ansturm der weltweiten Konkurrenz und der unkontrollierten Migrantenströme haben es geschafft, es gänzlich zu begraben. Heute scheint Europa nur irrationale, häufig unbegründete Ängste hervorzurufen. In diesem Planschbecken tollen sich die neuen antieuropäischen und fremdenfeindlichen Parteien, die im Osten wie im Westen auf offene Ohren stoßen und auf die Nachgiebigkeit und Inkompetenz einiger Regierungen spekulieren. Diese wiederum benutzen häufig Europa als Sündenbock, um unpopuläre Entscheidungen zu verkaufen.

Die Regierungen sollten noch vor ihren Bürgern verstehen, dass Europa heutzutage noch wichtiger ist als es gestern schon war. Solange die Europawahl ein Probelauf für nationale Wahlen wird in ihrem Nationaldenken verharren, nützt das enorme Potenzial Europas nicht den Europäern. Schade.

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