Bye bye Cool Britannia

Jetzt ist es offiziell: Großbritannien steckt in der Rezession. Das einst coole und großzügige London, das am 3. Mai seinen Bürgermeister wählt, ist sozial zerissen und zynisch geworden, schreibt La Repubblica. Trotz der Rekordzahl von Millionären scheinen die goldenen Jahre unter Tony Blair sehr weit weg.

Veröffentlicht am 2 Mai 2012 um 16:31

Die Reichen in England waren noch nie so reich wie jetzt: Insgesamt beläuft sich ihr Vermögen laut Jahresrangliste der Sunday Times auf 414 Milliarden Pfund, was über dem letzten Rekord aus dem Jahr 2008 liegt. Aber allen anderen macht die längste Depression des Jahrhunderts zu schaffen.

Der Mann, der sich vor kurzem in einer Fahrschule in der Tottenham Court Road verbarrikadiert hat und drohte, alles in die Luft zu sprengen, weil er, wie er meinte, nichts mehr zu verlieren hatte, war nicht bloß ein Verrückter, sondern auch arbeitslos – seine Tat schien als eine Art Stimmungsbarometer Ausdruck einer größeren Verzweiflung zu sein.

Nicht ohne Grund ereignete sie sich am Tag nach der Ankündigung, dass sich Großbritannien erneut in einer Rezession befindet. Der gefürchtete „Double Dip“ ist eingetreten – zwei Rezessionen in Folge, was es seit 1975 nicht mehr gegeben hat. Mit einem Schlag präsentiert sich die Hauptstadt 2012, im Jahr der im Juli und August stattfindenden Olympischen Spiele sowie des diamantenen Thronjubiläums der Queen angeschlagen, unsicher, verängstigt – am Horizont taucht das Schreckgespenst des [Streik geprägten] „Winter of Discontent“ der 1970er Jahre auf.

London, ein neues Babylon?

In den Jahren Blairs und seiner „Cool Britannia“ florierte die Börse, Immobilien stiegen im Wert, alle wurden reicher. Zumindest wirkte es so. Heute verzeichnet der Finanzsektor, der 29 Prozent des britischen BIP ausmacht, in den letzten beiden Quartalen den größten Rückgang. Banken stellen keine Leute ein, der Dienstleistungssektor hält sich gerade mal über Wasser, die Baubranche tendiert zur Stagnation.

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Stundenlanges Anstellen bei der Passkontrolle am Flughafen Heathrow: das Ergebnis der Budgetkürzungen und des daraus resultierenden Personalabbaus. Düstere Vorzeichen stehen im Raum: Der Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, tritt zurück. Warum? Er erklärt es in einem Artikel für das Prospect-Magazin, in dem er die Gier des in London vorherrschenden räuberischen Kapitalismus auf das schärfste verurteilt, denn schon die Bibel habe mahnend bemerkt: “The city trades in the souls of men”, treibe also mit den Seelen von Menschen Handel.

Die Bibel nahm jedoch nicht auf die reichste „Square Mile“ der Welt Bezug, sondern auf eine “City” der Vergangenheit, nämlich das antike Babylon: „Doch London ist ein modernes Babylon, in dem Handel und Profit alles Denken bestimmen und alles verkauft wird, auch das Gewissen.“

Es ist zu früh, um den Untergang des modernen Babylon vorauszusagen. Den Touristenschwärmen zwischen Piccadilly Circus und Trafalgar Square präsentiert sich bestimmt keine krisengebeutelte Stadt. „Aber nur, weil London Spielplatz der Reichen ist“ – dies die Beobachtung Ken Livingstones, der in seiner achtjährigen Amtszeit als Bürgermeister bis zum Jahr 2008 der „rote Ken“ genannt wurde und nun bei den Gemeindewahlen erneut um den Posten kämpft. In den Umfragen liegt der scheidende Bürgermeister, der Konservative Boris Johnson, vorn, allerdings nicht, weil Livingstones Botschaft schwach ist, sondern weil ihr Überbringer schwach ist – die Leute wollen neue Gesichter, und der 67-jährige Ken hat lange genug regiert.

„Da ist etwas faul im System.“

Trotzdem stößt das Modell einer in „Haves“ und „Haves not“ geteilten Stadt nicht nur beim Exbürgermeister auf größtes Missfallen. „Zwischen 1992 und 2008 sind die Gebühren für Privatschulen um 82 Prozent gestiegen“, so Martin Stephen, Direktor von der St. Paul’s School, der zweitexklusivsten Privatschule Großbritanniens (nach Eton). Die Kosten liegen mittlerweile bei 26 000 Pfund pro Jahr, also 30 000 Euro – auf die gesamte Schullaufbahn gerechnet sind das etwa eine halbe Million Euro für die Ausbildung eines Kindes bis zur Universitätsreife. „Ich bin das Kind eines Landarztes, der seine drei Kinder auf gute Schulen schicken konnte, ohne dass ihn das in den Ruin getrieben hat“, gibt der Direktor ehrlich zu. „Heute wäre er dazu nicht mehr in der Lage. Da ist etwas faul im System.“

Stellen Sie sich vor, Sie würden über London fliegen – das wäre natürlich keinesfalls ein trauriger Anblick: am Südufer der Themse der Shard von Renzo Piano, die „Glasscherbe“, der höchste Wolkenkratzer der Welt, fast fertig; am Nordufer das Gebiet um Stratford, einst eine städtische Müllhalde, nun als Basis für den neuen Olympiapark wiedererstanden – nach den Spielen ist mit einer Gentrifizierung zu rechnen, sodass vermutlich ein wohlhabendes London Nr. 2 im East End der armen Einwanderer entstehen wird.

Doch das Rezept einer gleichzeitig trendigen und großzügigen Stadt mit (gleichen) Möglichkeiten für alle, das sich in den Jahren des Blairismus so sehr bewährt hatte, ist heute nicht mehr wirklich effizient: Es ist ein immer unausgeglicheneres und skeptischeres London, das sich uns vor dem langen Sommer des diamantenen Thronjubiläums der Queen und den Spielen präsentiert – man hofft, dass es nicht zu Zwischenfällen wie den Terroranschlägen im Jahr 2005 oder den Unruhen des vergangenen Sommers kommt.

So bereitet eine Weltstadt unter Berufung auf den Terrorismus die Verabschiedung neuer Gesetze zur Überwachung sämtlicher E-Mails und sämtlicher besuchten Websites vor – der größte Eingriff in die Privatsphäre, der jemals in einem demokratischen Staat beobachtet wurde. Die Politik ist hier durch die Spendenaffäre um die Downing-Street-Abendessen mit Premier David Cameron und dem Abhörskandal der Tabloids Rupert Mordochs.

Der Pakt mit dem Teufel

„Auch wenn ich nicht Bürgermeister werden sollte, wird Cameron die nächsten Wahlen verlieren“, meint Livingstone, „gewinnen wird Ed Miliband, ein durch und durch linker Parteichef, nicht nur so ‚halb‘ wie Blair“. Fest steht, dass die Werte der „Tories“ nach zwei Jahren an der Macht in den Umfragen radikal zurückgehen. Als London „cool“ war, war es auch der Premier in der Downing Street.

Vielleicht hat der sozialistische englische Fantasy-Autor China Miéville recht – vergangenen Monat hat er London in der *New York Time*s auf das Schärfste kritisiert. Da sei diese Verbitterung, man warte auf das Chaos, eine Veränderung. – Der Mann, der in der Tottenham Court Road Computer aus dem Fenster warf, könnte Ausdruck dieses Trends sein.

Am gleichen Tag berichteten die Londoner Tageszeitungen, dass die Londoner Niederlassung von Goldman Sachs nur 4 Millionen Pfund Steuern auf 2 Milliarden Gewinn gezahlt hat – keine Steuerhinterziehung, man hat sich auf legale Weise aus der Affäre gezogen. Für Reverend Williams ist man keinen Pakt mit dem Teufel (à la Faust), sondern einen Pakt mit Frankenstein eingegangen. Ein Monster, das noch schrecklicher ist als der Teufel, weil es von Menschenhand geschaffen wurde.

Aus Großbritannien

Der Charme des Boris Johnson

Am 3. Mai wählt London seinen Bürgermeister. Dass der Konservative Boris Johnson laut Umfragen als Favorit gilt, versetzt die linksliberale Tageszeitung The Guardian in wundersames Staunen. Nach „vier Jahren bescheidener Ergebnisse im Rathaus“ ist es für das Blatt fast schon Zauberei, dass Johnsons „Star-Status“ auch weiterhin anhält.

Obwohl auch er Eton und Oxford hinter sich hat, ist es Johnson gelungen, sich von den unbeliebten „piekfeinen Jungs“ aus David Camerons Regierung abzusetzen. Er braucht in einer Buchhandlung nur einen Roman von Henry James mitzunehmen oder „Europas größtem Wolkenkratzer, The Shard“ seine Begeisterung auszusprechen, und schon steigt sein Beliebtheitsgrad in den Umfragen. Das ist ein Geschenk, um den ihn sein Labour-Rivale Ken Livingstone ziemlich beneidet, schreibt The Guardian.

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