Der Weg ins Chaos

Am 6. Mai rechneten die Griechen mit ihren beiden traditionellen Parteien und deren Absegnung der Sparpolitik ab und ließen die radikale Linke und die extreme Rechte ins Parlament einziehen. Dieses Ergebnis könnte zu einer machtlosen Regierung und sogar zu Gewalttätigkeiten führen, so befürchtet ein Kolumnist.

Veröffentlicht am 7 Mai 2012 um 14:15

Die Griechen haben mit der Wahl einen Blick auf die Vergangenheit geworfen und das Tor zur Zukunft geöffnet. Die Wähler wünschen sich eine Rückkehr zu einer idealen Zeit – als sie den Forderungen unserer Partner und Gläubiger entfliehen konnten – und zerstörten das politische Zwei-Parteien-System, fragmentierten das Zentrum und brachten die Extremen mitten ins Geschehen hinein. Das Ergebnis von gestern Abend lässt keiner Fraktion des neuen Parlaments viel Spielraum für die Bildung einer Koalition – weder mit den Parteien, die den Darlehensvertrag befolgen wollen, noch mit denen der „Nein-Front“.

Gespaltene Verhältnisse

Wenn sofort Neuwahlen angesetzt würden, wäre es ganz und gar nicht sicher, dass die [liberal-konservative] Nea Dimokratia (dt.: Neue Demokratie) und die [sozialdemokratische] Pasok etwas von ihrer alten Macht zurückerkämpfen würden (bis 2009 teilten sie sich mehr als 80 Prozent der Stimmen, wogegen sie gestern zusammen kaum auf 35 Prozent kamen). Mit mindestens sieben Parteien im Parlament, von denen keine über 20 Prozent erzielte, werden unsere Politiker drei wesentliche Herausforderungen meistern müssen: Sie müssen lernen, auf ranggleicher Basis zusammenzuarbeiten – ohne dass eine Partei einen starken Pol bildet, ohne dass eine Partei versucht, einen Vorteil über eine andere zu erlangen.

Weiter müssen sie sich mit den Neonazis der Chrysi Avgi [dt.: Goldene Morgenröte] auseinandersetzen, die jetzt im Parlament sind, und sie müssen einen Weg finden, sich bei den Gesprächen mit unseren Gläubigern als glaubwürdige Partner zu verhalten, jetzt da die Pasok-ND-Regierung unter Lukas Papademos nicht mehr da ist.

Unsere Gesellschaft, die an Zusammenarbeit und an Kompromissbildung ebenso wenig gewöhnt ist, wird durch den Aufstieg der Syriza, anderer linksgerichteten Parteien sowie der Chrysi Avgi großen Herausforderungen gegenüberstehen. Obwohl sie an entgegengesetzten Enden des politischen Spektrums stehen, haben beide Seiten etwas gemeinsam – einen Mangel an Respekt gegenüber dem Establishment und einen tiefen Hass aufeinander. Wenn Syrizas Aufstieg zu noch größeren Eingriffen der Linken in Universitäten und anderen Sphären des öffentlichen Lebens führt, dann ist es möglich, dass die „Truppen“ der Linken und Anarchisten auf der Straße mit den schwarzen Hemden der Chrysi Avgi zusammenstoßen.

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Der Ruin des politischen Systems fordert neue Zusammenarbeit

Ohne eine starke Regierung, die ihnen Anweisungen erteilt und sie unterstützt, wird die Polizei es wahrscheinlich vermeiden, sich in diese Rivalität einzumischen. Dies kann die Unsicherheit für die Bürger noch weiter verschlimmern und vielleicht sogar zu einer noch größeren politischen Aufsplitterung führen.

Es ist nicht überraschend, dass die Pasok und – in geringerem Ausmaß – die Nea Dimokratia den Preis für die Sparpolitik zahlen mussten, doch ein derartiger Rückgang ihrer Wählerschaft wurde nicht erwartet. Nun ist also die Zeit gekommen, die Theorien derer zu testen, die glauben, dass Griechenland seinen Gläubigern Bedingungen stellen kann und dass wir es alleine schaffen, falls sich unsere Kreditgeber zurückziehen.

Diese Denkweise wurzelt in dem Verhalten von Andreas Papandreou, der die Pasok gründete und die griechische Politik in den 1980er Jahren dominierte. Seitdem hat dieser Populismus die öffentliche Debatte in Griechenland geprägt. Nun fallen ihm die Pasok und die ND zum Opfer: Obwohl sie den Populismus selbst schamlos ausnutzten, waren sie hilflos, als andere ihn gegen sie richteten.

Die gestrigen Wahlen haben das politische System der letzten 38 Jahre zerstört. Sie haben den Weg für neue Mächte geebnet und den Bedarf an Zusammenarbeit gezeigt, sowohl vor den Wahlen als auch danach. Wenn unsere Politiker und all diejenigen, die im öffentlichen Leben eine Rolle spielen sind, ihre Lektion gestern nicht gelernt haben, dann werden wir in einen Konfliktzyklus eintauchen, der nur in einer Katastrophe enden kann. (pl-m)

Kommentar

Alles kommt auf die kleinen Parteien an

Das wichtigste Ereignis der Wahlen ist der Zusammenbruch der beiden großen traditionellen Parteien: Die sozialistische Pasok und die liberal-konservative Nea Dimokratia erzielten zusammen nur 32 Prozent der Stimmen. „Die griechische Bevölkerung hat der Pasok niemals ihren Werbeslogan von 2009 verziehen: ‚Es gibt Geld’“, so schreibt To Vima. Was sie ebenfalls nie verziehen hat, sind „die Entmündigung des Landes, der Gesinnungswandel der Nea Dimokratia und die Versessenheit ihres Parteichefs Antonis Samaras auf den Posten des Ministerpräsidenten“.

Auf der Website der Wochenzeitung ist zu lesen, die Wahlen seien „Alexis Tsipras, dem Anführer der Syriza-Linkskoalition, zugute gekommen, aber auch Fotis Kouvelis von der demokratischen Linken, Panos Kammenos von der populistischen Partei der Unabhängigen Griechen und der Chrysi Avgi, der Partei der ‚goldenen Morgenröte’, die neu ins Parlament einzieht“.

Heute, so warnt To Vima,

haben Tsipras, Kouvelis und Kammenos eine Verantwortung. Bis jetzt waren sie in der Opposition. Nun haben sie eine bedeutende Verantwortung, denn die Zukunft des Landes hängt von ihren Entscheidungen ab. Jetzt hat sich die Gesamtlage geändert.

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