Eine niederländische Kompanie auf Patrouille im Chora-Tal (Afghanistan). AFP

Die Versuchung Rückzug

Infolge ihrer Uneinigkeit über einen möglichen Abzug der Truppen in Afghanistan ist die niederländische Koalitionsregierung am 20. Februar gestürzt. Die Schockwelle könnte auch die vor Ort engagierten europäischen Nachbarn berühren, meint die Presse.

Veröffentlicht am 22 Februar 2010 um 16:34
Eine niederländische Kompanie auf Patrouille im Chora-Tal (Afghanistan). AFP

Der Krieg in Afghanistan forderte ein neues Opfer: die niederländische Koalitionsregierung unter der Leitung von Jan Peter Balkenende. In der Nacht vom 19. auf den 20. Februar wollte die PvdA [Partij van de Arbeid] ihr Wahlversprechen einlösen und alle niederländischen Truppen, d.h. derzeit 1940 Soldaten, im August 2010 aus Afghanistan abziehen. Die Christdemokraten der CDA und der CU finden hingegen, die Niederlande sollten dem Wunsch der NATO nachgeben und 500 bis 600 Personen zur Ausbildung der afghanischen Polizei stationiert lassen. Vorgezogene Parlamentswahlen dürften Mitte Mai stattfinden.

Ein niederländischer Abzug "wird dazu beitragen, Obamas Strategie und die Zukunft der Afghanen zu untergraben", urteilt der Politologe Rob de Wijk in der Trouw. Die Niederlande liefen Gefahr, "diesen Amateurismus" durch eine "Ausgrenzung aus dem internationalen Geschehen" zu bezahlen. So "haben die Amerikaner, ihre Alliierten und die Afghanen nichts von den Wahlversprechen [der PvdA]. Sie brauchen Solidarität".

Ungerechte Lastenverteilung in Europa

"Zum ersten Mal stürzt eine Regierung wegen der Afghanistan-Frage", heißt es in Le Soir. "Afghanistan mag weit weg sein, doch wenn die Jungs dort kämpfen müssen, dann fegt die Außenpolitik nicht nur durch die Sitzreihen des Parlaments, sondern auch in die heimatlichen Wohnzimmer. [...] Bleibt nur noch, die Inhalte der Wahlurnen abzuwarten, um zu erfahren, inwieweit die Wähler die Christdemokraten, also die Verfechter einer eventuellen Verlängerung des niederländischen Militäreinsatzes in der Provinz Urusgan, unterstützen. Oder, im Gegenteil, die Sozialdemokraten, die einen schnellen Rückzug vertreten. Erst dann werden wir wirklich wissen, welches Gewicht die afghanische 'Sache' noch hat, in einem Land, das eine starke transatlantische Verbindung aufrechterhalten will."

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Nach einem mehr als achtjährigen Einsatz sei eine derartige Krise zu erwarten, liest man im Standard. Denn "die mangelnde Solidarität unter den NATO-Bündnispartnern, die unfaire Lastenverteilung der Europäer, wo einige – wie Österreich – nichts und andere alles in Afghanistan geben, haben jetzt ihren Tribut gefordert", so die Wiener Tageszeitung. "Vier Jahre lang riskierten die Niederländer ihr Leben in der umkämpften Provinz Urusgan. Viele haben es dabei verloren, während andere in weniger gefährlichen Teilen des Landes Patrouille fuhren, im Stabsquartier in Kabul Karten studierten oder zu Hause in Europa die Hände rangen und Bedenken trugen. [...] Keine Allianz hält das auf Dauer aus. Keine Regierung kann eine solche Ungleichheit auch endlos vor ihren Wahlen verteidigen."

In Berlin freut sich die taz über das Nein der niederländischen Sozialdemokraten und hofft, dass die deutschen Abgeordneten, die diese Woche über den Einsatz in Afghanistan abstimmen, sich ein Beispiel nehmen. In Deutschland, so die Tageszeitung aus Berlin, sei der Zusammenbruch einer Regierung wegen dieses Krieges undenkbar. "Von der 'holländischen Krankheit' sprach man in den frühen 80er-Jahren, als der damalige deutsche Allparteienkonsens zur Doktrin der atomaren Abschreckung zu bröckeln begann", erinnert die taz. "Damals lernten die Deutschen von ihren niederländischen Nachbarn, ein bis dahin als unumstößlich geltendes militärpolitisches Dogma infrage zu stellen. [...] Von soviel Freiraum ist Deutschland heute bei der Auseinandersetzung über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan weit entfernt. Das Tabu wird nicht angerührt. Dabei sollte das niederländische Beispiel daran erinnern, was solch ein Dissens über militärische Entscheidungen vor allem ist: eine demokratische Selbstverständlichkeit."

Die Times hingegen findet es "bedauerlich, dass genau in dem Moment, da sich die NATO-Truppen vor Ort für erreichbare und löbliche Ziele einzusetzen scheinen, der politische Wille, der sie an Ort und Stelle hält, einzuknicken beginnt". Die britische Tageszeitung befürchtet einen "Domino-Effekt" in den anderen in Afghanistan engagierten europäischen Staaten sowie "in den Staaten, in welchen sich die Öffentlichkeit gegen die Afghanistan-Kampagne kehrt".

Eine weitere Front in den Niederlanden**: die Wahlen**

An der innenpolitischen Front haben die Niederländer bereits mit einer anderen Debatte begonnen. Am 3. März finden Kommunalwahlen statt und der Sturz der Regierung kann nur für die von Geert Wilders geleitete rechtsextreme Volkspartei PVV ein gefundenes Fressen sein. Die Trouw, die traditionsgemäß der CDA nahe steht, beschuldigt die beiden großen Parteien, "für die Populisten den roten Teppich auszurollen". "Es sieht so aus, als lasse sich [die PvdA] im Hinblick auf die Meinungsumfragen von den linken und rechten Populisten beeinflussen, die für den Kampf gegen den Extremismus in der Welt keinen Cent ausgeben wollen".

Die im Hinterhalt lauernde PVV sei das Schreckgespenst der sich abzeichnenden Wahlen. In De Volkskrant lobt Nazmiye Oral die Standfestigkeit des sozialdemokratischen Parteiführers Wouter Bos: "Hut ab! Endlich Taten statt Worte", schreibt die Chronistin und hofft, Bos werde eine "überlegte Strategie gegenüber der PVV" ausarbeiten, anstatt zu versuchen, diese Partei, die heute zur niederländischen politischen Landschaft gehört, zu "marginalisieren". Die Trouw ist anderer Meinung und findet, die Vorsitzenden der CDA und der PvdA hätten gezeigt, dass sie sich der Konsequenzen ihrer Handlung nicht bewusst genug gewesen seien.

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