Europa legt keine Atempause ein, als ob es der Kontinent nicht länger ertragen könnte, dass ihm über so viele Jahrzehnte hinweg nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
Bereits einige Tage nach dem Hoffnungsschimmer, der sich infolge des Wahlsiegs von François Hollande in Frankreich abzeichnete, werden wir wieder mit den beiden Problemen konfrontiert, die dieser Krise zugrunde liegen.
Einerseits, wie wir es in Griechenland beobachten, die Schwächen der politischen Systeme, die sich selbst zerstören in der Bemühung, die Bürger davon zu überzeugen, dass sie sich einem grenzen- und aussichtslosen Sparkurs unterwerfen und allein die Hauptlast der Krise tragen.
Andererseits, wie wir es in Spanien sehen, die Schwächen weiter Teile des Finanzsystems als Ergebnis einer zehnjährigen Misswirtschaft mit Liquiditätsschwemme und ungenügender Aufsicht.
Fatale Summe von Schwächen
Diese Schwächen summieren sich zu einer untragbaren Situation: in Griechenland, weil eine Neuverhandlung der Rettungsbedingungen wieder zu Erwägungen bezüglich eines Austritts aus dem Euroraum führen, und in Spanien, weil die Kombination aus Reformen und Haushaltskürzungen, bis heute der einzige Lösungsansatz der Regierung, nur greifen kann, wenn die Aktionen vor dem Hintergrund eines stabilen Finanzsystems und des Vertrauens der ausländischen Geldgeber umgesetzt werden.
Die Regierungen der Euroländer müssten umfassende Maßnahmen treffen, um Griechenland im Eurosystem zu halten, beziehungsweise um zu vermeiden, dass ein eventueller Austritt eine Kettenreaktion auslöst, die Spanien mitreißt.
Diese Maßnahmen würden den Märkten signalisieren, dass Griechenland entweder eine Zukunft im Eurosystem hat oder dass sein Ausscheiden einen Einzelfall darstellt.
Da jedoch die europäischen Politiker nicht die nötigen Vorkehrungen treffen, glauben die Märkte nicht an die Versprechen und bleiben pessimistisch. In dieser besorgniserregenden Lage entsteht in den europäischen Institutionen der Eindruck, Griechenland und Deutschland seien an ihre Grenzen gestoßen und könnten nicht weitere Anstrengungen unternehmen. Die Griechen sind der Sparmaßnahmen überdrüssig, die Deutschen der Solidarität müde.
Die Folgen des griechischen Austritts
Legen wir kurz eine Pause ein und überdenken die Lage. Ein Austritt Griechenlands aus dem Eurosystem wäre ein enormes Desaster für die Griechen und für die übrigen Eurostaaten. In Griechenland würden sich die Lebensbedingungen weiter verschlechtern, während die radikalen Parteien an Macht gewinnen.
Obwohl Griechenland de facto weiterhin zur Europäischen Union gehören würde, würde sich ein Ausscheiden aus dem Euroraum auf alle politischen Entscheidungen auswirken, die auf der Zugehörigkeit zur EU gründen, insbesondere in Bezug auf den Binnenmarkt. Hier wäre ein Austritt aus dem Euro in der Praxis gleichbedeutend mit einem Ausscheiden aus der EU.
Es gäbe auch geopolitische Auswirkungen. Gerade zu einer Zeit, in der die EU nach den Turbulenzen des Krieges sich bereit erklärt, den westlichen Balkan und vor allem Kroatien in ihren Schoß aufzunehmen, würde der Austritt Griechenlands aus dem Eurosystem in dieser bereits sehr komplizierten Region eine neue Front öffnen und staatlicher Misswirtschaft Vorschub leisten.
Die Griechen hielten das europäische Projekt für ein Fiasko, und würden sich logischerweise daraus zurückziehen. Dieser Rückzug könnte den antieuropäischen Stimmen, die traditionell in diesem Land lauter sind als im übrigen Südeuropa wie Spanien, Italien oder Portugal, mehr Gehör verleihen, was wiederum signifikante Auswirkungen auf die Sicherheit haben könnte, entweder durch die Infragestellung der Zugehörigkeit zur NATO oder durch das Aufflammen des Nationalismus und der Spannungen mit der Türkei und Mazedonien.
Drohender Domino-Effekt
Für das übrige Europa könnten die Folgen nicht schwerwiegender sein. Das Konzept des „kontrollierten Austritts“, eine derzeit besonders beliebte Untertreibung, versteckt die zynische Hoffnung, dass allein die Griechen davon betroffen sind.
In der Praxis würde Griechenland allerdings dem Euroraum zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt den Rücken kehren, weil Portugal, Italien und Spanien gerade besonders schlecht aufgestellt sind, die Haushaltskürzungen maximalen Schaden angerichtet, die Reformen jedoch noch keine Früchte getragen haben und das Wachstum weiter auf sich warten lässt.
In anderen Worten würde der Austritt Griechenlands genau in dem Augenblick erfolgen, in dem die Ansteckungsgefahr am höchsten und damit die Wahrscheinlichkeit eines Einzelfalls am niedrigsten ist.
Die Europäische Kommission hat noch nicht alle Geschütze gefeuert und holt gerade eine ganze Batterie von Maßnahmen aus den Schubladen ihres Arsenals, um wenigstens minimales Wachstum zu erzielen. Dabei dürfte es sich um einen Cocktail aus Strukturfonds, EZB-Krediten und einem gewissen Maß an Flexibilität bei der Umsetzung der Haushaltskürzungen handeln.
Trotz des Optimismus infolge des Wahlsiegs von François Hollande, der in Brüssel einen neuen Wind wehen lässt, drängt sich uns angesichts der erschütternden Lage Griechenlands die Frage auf: Könnte Hollande zu spät gekommen sein?