Foto: Wadem / Flickr

Fortschritt ist von vorgestern

Die Bürger der EU sehen immer pessimistischer in die Zukunft, stellt La Vanguardia fest. Gebeutelt von der Wirtschaftskrise haben sie kein Vertrauen mehr, dass Europa ihr Leben verbessern könnte.

Veröffentlicht am 25 Februar 2010 um 15:59
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Ende 2009 meinten 54 Prozent der Europäer, dass auf dem Arbeitsmarkt das Schlimmste der Krise noch bevorsteht. Seit Jahren werden sie mit dem von der Globalisierung hervorgerufenen wirtschaftlichen Umbruch konfrontiert. Auch wenn Europa nie den Ruf genossen hat, ein besonders optimistischer Kontinent zu sein, so hat die derzeitige Wirtschaftskrise bei den Bürgern den Zukunftspessimismus noch wachsen lassen.

Während die USA "sich bewusst sind, dass man die Zukunft selbst gestalten kann, ist Europa seit je viel pessimistischer. Derzeit leidet es unter dem stagnierenden europäischen Integrationsprozess", meint Fernando Vallespín, ehemaliger Präsident des staatlichen spanischen Umfrageinstituts CIS und Professor für Politikwissenschaften an der Autonomen Universität Madrid. "Man versucht, mit Hilfe des Nationalstaats die Krise zu bewältigen", fügt er hinzu. Noch vor ein paar Monaten erklärte sich die Mehrheit der europäischen Bürger zufrieden oder sehr zufrieden mit ihrem persönlichen Leben (78 Prozent laut Eurobarometer 2009). Die persönliche Zufriedenheit der Dänen, Luxemburger, Schweden, Niederländer, Finnen und Briten lag dabei über 90 Prozent, während die Spanier mit 74 Prozent unter dem europäischen Durchschnitt lagen, ebenso wie die Staaten Osteuropas, wo das Einkommensniveau niedriger liegt. Italien, das trotz seines Wohlstands traditionell unter dem Europa-Durchschnitt liegt, kam mit 71 Prozent auf dem letzten Platz.

Einer aktuellen Studie der Europäischen Kommission zufolge liegt das Vertrauen in die Wirtschaft aber viel niedriger. 54 Prozent schätzen, dass auf dem Arbeitsmarkt das Schlimmste der Krise noch bevorsteht, gegenüber 38 Prozent die meinen, es läge hinter uns. Dieser Vertrauensindex (oder Mißtrauensindex) ist aber im Vergleich zum letzten Frühjahr wieder angestiegen. Wenn auch die Lage im letzten Herbst miserabel war, so scheint es doch so, dass sich durch die ersten Anzeichen eines Wirtschaftswachstums in verschiedenen Ländern die Stimmung gebessert hat. Dennoch: Die Krise hat die Kluft zwischen dem Norden Europas einerseits und dem Süden und Osten andererseits noch vergrößert.

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Die Folgen liegen tief und der Wiederaufbau wird Zeit brauchen, sagt das Eurobarometer voraus. Schon vor der Krise zeigten sich die Soziologen aller Breitengrade besorgt über den in Europa vorherrschenden Pessimismus. Selbst Großbritannien sei davon betroffen, behauptet der Wirtschaftsexperte und ehemalige Berater von Tony Blair und José Manuel Barroso, Roger Liddle."Ausnahmsweise sind sich die Briten und anderen EU-Bürger einmal einig", ließ er mit Ironie in einer 2008 veröffentlichten Studie zum "Sozialpessimismus in Europa" verlauten. Laut Liddle begannen damals die Briten ihr Leben mit demselben Blick wie Franzosen, Deutsche oder Italiener zu sehen. "Es gab in Großbritannien schon vor der Krise Anzeichen von Sozialpessimismus. Überraschend war, dass das schon in den wirtschaftlich fetten Jahren wie 2005 oder 2007 der Fall war. In Frankreich, in Deutschland und auch in Großbritannien", präzisiert der Forscher des Londonder Think Tanks Policy Network. Selbst wenn die persönliche Zufriedenheit groß war, sah man skeptisch in die Zukunft, fügt er noch hinzu, und zwar aufgrund der Wandlungen durch Globalisierung, Immigration, usw. Fazit von Liddle: "Geht's mit der Wirtschaft bergab, wachsen die Zukunftsängste."

Fernando Vallespin spricht hingegen von einer "neuen historischen Situation" in Europa: "Europa glaubt nicht mehr an den Fortschritt. Es kämpft, um das Erreichte zu bewahren: eine privilegierte Position, neben den USA die beste der Welt." Dass Europas Rolle in der Weltwirtschaft sinke "konnte man schon gut vor der Krise beobachten. Wenn Europa ein Wachstum von zwei Prozent vorlegte, waren es in China jahrelang acht oder zehn Prozent Wirtschaftswachstum", stellt der Direktor des Madrider Büros des European Council of Foreign Relations (ECFR) und Professor der Politikwissenschaften an der Fernuniversität UNED José Ignacio Torreblanca fest. "Aber", fährt er fort, "man stellt nun fest, dass Europa und die USA im Vergleich zu den aufstrebenden Wirtschaftsmächten hinterherhinken. Durch die Krise wurde das noch verschlimmert."

Analyse

Ach so altes Europa

Für den Leitartikler der Vanguardia – Carles Castro – hat die Bezeichnung "altes Europa", die der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld verwendete, "vor allem etwas mit der Bevölkerungsverteilung zu tun, die sich unerbittlich auf den Seelenzustand eines ganzen Kontinentes auswirkt". Europa leidet unter den "Symptomen dieses schwierigen Übergangs, der ihm seine Kräfte entzieht". Der Euro-Pessimismus sei also nur ein "Vorgeschmack dieser Reife-Krise, welche die Europäer dazu veranlasst, sich immer wieder die ewig währenden Fragen zu stellen: Wer sind wir? Wo bewegen wir uns hin? Usw…"

Lässt man die Wirtschaftskrise einmal beiseite, so bleiben zwei andere Veränderungen übrig, die infrage stellen, was wir für unsere Zukunft eigentlich für sicher hielten, schreibt Carles Castro. Zum einen "stellen wir fest, dass der so haltbare Wohlfahrtsstaat – mit seinen Renten als Symbol sozialen Schutzes – immer mehr ins Wanken gerät". Zum anderen "ist das weißhäutige Europa der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine immer blasser werdende Erinnerung". Zumal dieser Kontinent "Millionen von Menschen aus der ganzen Welt aufgenommen hat". Zudem habe sich "das Integrations-Versprechen" seines Erachtens in mehreren europäischen Ländern "in eine gefährliche soziale Bombe mit Zeitzünder verwandelt". Kurz gesagt ist "der Mix" für Carles Castro "äußerst explosiv".

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