Das Leben ist (fast) ein Krimi

Ein Roman über einen Serienmörder in Athen ist so wirklichkeitsnah, dass Autor Petros Markaris seine Leser mahnen muss, ihn nicht nachzuahmen. Der Grund: Es geht um die steuerhinterziehende griechische Elite und die Opfer des korrupten Systems.

Veröffentlicht am 16 Mai 2012 um 11:55

Ein Serienmörder geht in den reichen Vororten von Athen um und wählt seine Opfer auf eigentümliche Art und Weise aus. Sie alle sind reiche Griechen, die ihre Steuern nicht gezahlt haben, und ihre Leichen werden inmitten der antiken Ruinen der Stadt aufgefunden. Gestorben sind sie alle an einer Vergiftung durch Schierling, mit dem seinerzeit auch Sokrates hingerichtet wurde.

Griechenland macht zur Zeit eine Menge durch, unter anderem nimmt auch die Kriminalität beträchtlich zu, doch dieser ganz besondere Horror ist größtenteils Fiktion. Es ist die Handlung des neuesten Bestsellers von Petros Markaris, der die Rollen des Krimiautors und des Sozialkommentators in Griechenland so gut miteinander kombiniert hat, dass er eine der meistzitierten Stimmen in der Krise geworden ist.

Der Titel hat eine altgriechische Bedeutung: die Beendigung des Lebens

Die Morde im Mittelpunkt von Markaris’ neuem Buch „Pereosi“ bzw. „Zahltag“ stoßen auf ein breites Echo bei einer großen Leserschaft, die wütend auf die steuerhinterziehende Elite des Landes ist – schließlich hat deren Nutzlosigkeit dazu beigetragen, Griechenland in die Knie zu zwingen.

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Viele Leser sind, wie der Erzähler und Held, Kommissar Kostas Charitos, hin- und hergerissen zwischen Abscheu und heimlicher Bewunderung für den Mörder, der sich selbst als „Nationaler Steuereintreiber“ bezeichnet und Geld fordert – nicht etwa für sich selbst, sondern für die Staatskassen. Die öffentliche Sympathie für den Killer war so groß, dass Markaris vorsichtshalber einen Hinweis auf dem Buchrücken aufdrucken ließ: „Nicht zur Nachahmung empfohlen.“

„Ich wollte erzählen, wie diese Krise wirklich entstanden ist, die wahre Geschichte, und wie ganz gewöhnliche Menschen davon betroffen sind“, sagt Markaris in einem Interview in seiner Wohnung in Athen. Seiner Meinung nach ist der Kriminalroman die bestmögliche Form des sozialen und politischen Kommentars, weil so vieles, was heute in Griechenland vor sich geht, kriminell ist.

„Der Titel hat eine altgriechische Bedeutung: die Beendigung des Lebens, das somit zum Abschluss gebracht wird“, erklärt der 75-jährige Autor. „Doch seine moderne Bedeutung ist ein steuerrechtliches Verfahren. Wird eine Zahlung an das Finanzamt geleistet – eine Art Abschlusszahlung nach einer Selbstveranlagung –, dann erlässt der Staat alle anderen unbezahlten Steuern.“

Das Land geriet auf spektakuläre Weise außer Kontrolle

Markaris wurde in Istanbul geboren, als Kind griechisch-armenischer Eltern. Mit Anfang 30 zog er nach Athen und sieht die einheimischen Probleme Griechenlands mit den Augen eines Außenstehenden. „Das ist ein System, das sich seit Anfang des Jahrhunderts nach und nach herausgebildet hat, doch in den letzten 30 Jahren hat sich das Ganze beschleunigt“, sagt er.

Das besagte System wird meist als klientelistisch bezeichnet. Es bezieht die griechische Elite ein – Schiffseigner, Ärzte, Rechtsanwälte und Top-Journalisten, die die beiden Hauptparteien finanzieren und als Gegenleistung für ihre Investitionen hochrangige Beamtenjobs für ihre Söhne und Töchter sowie einen lebenslangen Steuerfreibrief bekommen. Das war ein untragbarer Handel, der in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung vertuscht wurde und auf spektakuläre Weise außer Kontrolle geriet, als das Land an den internationalen Märkten nicht länger Kredite für die Finanzierung seiner Gewohnheiten aufnehmen konnte.

Als die aus dem Amt scheidende Regierung etliche Athener Ärzte verfolgte, in einem verspäteten Versuch, ein paar Einkünfte einzutreiben, stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen gar nichts zahlten, da sie ihr jährliches Einkommen unter dem minimalen Steuergrenzwert von 12.000 Euro veranlagten – und gleichzeitig Autos fuhren, die ein Vielfaches dieses Betrags kosten. In einem geistigen Wettstreit zwischen den Reformisten in der Regierung und der Elite verloren die Reformisten. Die Regierung brach zusammen und die Wahlen von letzter Woche brachten nur eine Pattsituation und die unsicheren Aussichten auf neue Wahlen.

Seine Bücher sind voll Beobachtungen über die wachsende Krise

Unterdessen füllen die Reichen weiterhin die gehobenen Bars und Restaurants der Stadt, während die Arbeiter und ein großer Teil der Mittelklasse der Armut entgegenblicken. Markaris selbst lebt in einer bescheidenen Wohnung in einem zentral gelegenen Wohnblock, der ganz offensichtlich früher weitaus angenehmer war. Nun explodiert der Zorn bis auf die Hausmauern, auf denen den Immigranten anhand von Graffiti mit Ausweisung und Schlimmerem gedroht wird.

Seine Bücher sind von Beobachtungen über die wachsende Krise durchzogen. „Zahltag“ beginnt mit einem Zitat des ehemaligen Präsidenten Konstantinos Karamanlis, der Griechenland als „ein endlosen Irrenhaus“ beschrieb. Im ersten Kapitel bringen sich vier alte Damen um und hinterlassen einen Brief, in dem sie erklären, dass sie sich infolge der Kürzung ihrer Rente keine Medikamente oder Arztbesuche mehr leisten können und somit beschlossen haben, nicht länger eine Belastung für die Gesellschaft zu sein. Ähnliche Fälle wurden in den letzten beiden Jahren dokumentiert. Laut offiziellen Statistiken ist die Selbstmordrate um 22 Prozent in die Höhe geschnellt, doch das ist wahrscheinlich eine Untertreibung des Problems. Für gläubige orthodoxe Familien ist Selbstmord eine Schande und wird deshalb oft verheimlicht.

Nach der Entdeckung der Beweggründe des selbst ernannten Steuereintreibers bemerkt Charitos trocken, dass die Bevölkerung, wenn alle Steuerbetrüger des Landes ermordet würden, nur noch aus ein paar „Lohnarbeitern, Arbeitslosen und Hausfrauen“ bestünde.

„Das System, das seit dem Fall der Junta in diesem Land waltet, ist tot“, sagt Markaris. „Die Sparmaßnahmen haben die politische Landschaft zerstört. Die Frage ist, ob Griechenland die Sparpolitik übersteht und überlebt, und ob Europa seinerseits einen griechischen Zusammenbruch überleben kann. Ich kenne die Antworten auf diese Fragen nicht.“

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