Auf dem Sarg: "Weltwirtschaft" ; auf dem Apfel : "Neoliberalismus".

Wachstum wecken, eine große Aufgabe

Beim Treffen der G8 in Camp David kamen die reichsten Länder darin überein, das Wachstum anzukurbeln, insbesondere in Europa. Das wäre ein radikaler strategischer Wandel im Vergleich zum bisher gefahrenen Sparkurs. Sind die führenden Politiker dazu bereit?

Veröffentlicht am 21 Mai 2012 um 15:21
Auf dem Sarg: "Weltwirtschaft" ; auf dem Apfel : "Neoliberalismus".

1990 erlitt Schweden eine sehr intensive Finanzkrise, nachdem eine Immobilienblase platzte. Diese Krise wurde zum Teil durch die Bildung von „Bad Banks“ [Abwicklungs- oder Auffangbanken] überwunden, auf welche faule Wertpapiere übertragen werden konnten. Die Behörden traten sofort in Aktion, um die unter Schwierigkeiten leidenden Banken zu retten, deren Verluste zwölf Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmachten. Auf die Finanzkrise folgte eine Wirtschaftskrise, die das reale (um die Inflation bereinigte) Wachstum um vier Prozent herabsetzte. Die schwedische Wirtschaft brauchte vier Jahre, bis das BIP wieder auf den Vorkrisenstand gelangte.

Welche Lehren kann man aus der schwedischen Krise ziehen? Das wirtschaftliche Wohlergehen hängt von einem normal funktionierenden Finanzsystem ab, das für Haushalte und Unternehmen Kredit erzeugt. Weiter liefert die Stabilisierung des Finanzsystems allein keine Garantie für Wohlstand: Gleichzeitig muss es einen Rettungsplan für die reale Wirtschaft geben, um die Produktion anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen. Ein solcher Plan muss ebenso ambitionierte Zielsetzungen haben wie eine finanzielle Rettung.

Die Minsky-Phase soll überwunden werden

In den letzten beiden Jahren hat Europa diese Selbstverständlichkeiten vergessen, mit dem bekannten Resultat: Die Risikoprämien für die Problemländer sind nicht gesunken und diese Länder haben ihre Staatsdefizite nicht reduziert, wie sie es hätten tun sollen. Im Gegenteil: In fast all diesen Ländern sind die Staatsschulden angewachsen, die Arbeitslosenzahlen in die Höhe geschnellt, die Mittelklassen ärmer geworden und die Sterblichkeitsraten der Unternehmen gestiegen. Heute schlägt der G8-Gipfel im amerikanischen Camp David vor, den völligen Schiffbruch zu vermeiden und nicht nur den Banken, sondern auch den Bürgern Hilfsgelder zu bewilligen. Steht das intellektuelle Klima unserer Zeit wirklich im Wandel? Wird man jetzt Wachstumspolitik statt Sparpolitik bevorzugen? Das zumindest geht aus dem abschließenden Kommuniqué des Gipfels hervor. Die Minsky-Phase (nach dem gleichnamigen Wirtschaftswissenschaftler), in welcher die Gläubiger nicht zahlen können, die Kreditgeber nicht zahlen wollen und alle versuchen, gleichzeitig die Schulden zu streichen, soll überwunden werden.

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Das Abschlusskommuniqué des G8 erkennt auch, dass die verschiedenen Regionen der Welt nicht am selben Moment des Zyklus stehen: „Wir verpflichten uns, alle nötigen Maßnahmen zu treffen, um unsere jeweilige Wirtschaft zu stärken und gegen finanzielle Spannungen anzukämpfen. Weiter erkennen wir, dass die angebrachten Maßnahmen nicht für alle dieselben sind.“ Das gilt für die Vereinigten Staaten und für Europa, doch auch innerhalb der Europäischen Union, wo zum Beispiel die deutsche Konjunktur nicht dieselbe ist wie die spanische.

Gesunder wirtschaftlicher Verstand

Die Position des G8 muss nun in jeder der Regionen umgesetzt werden, auch in den Schwellenländern. Übermorgen [am 23. Mai] findet der EU-Gipfel über das Wachstum statt. Der nächste G20 wird im Juni abgehalten, der siebte seit Beginn der Großen Rezession. Bei den ersten drei Gipfeln (Washington, London und Pittsburg) verteidigten die Teilnehmer denselben gesunden wirtschaftlichen Verstand: günstige Kredite, massives Konjunkturprogramm und Unterstützung der Banken, damit das System nicht wie Anfang der 1930er Jahre zusammenbricht.

Doch das politische Vorgehen war nicht in der Lage, die konstante, starke Erhöhung der Arbeitslosigkeit, den Rückgang der Produktion und das Aussetzen der Nachfrage zu verhindern – weit davon entfernt. Bei den G20-Treffen in Toronto, Seoul und Cannes erkannten die Teilnehmer nicht, wie mangelhaft die Ankurbelungsstrategien waren, und die Welt spaltete sich: einerseits diejenigen, die das fehlende Wachstum für das Hauptproblem hielten, und andererseits diejenigen, die zu einer Politik der Haushaltsstabilisierung und der Sparmaßnahmen aufriefen, um wieder ein makroökonomisches Gleichgewicht zu erlangen. Die Ergebnisse sind offensichtlich.

Der G20 wird bald wieder zusammentreten, diesmal in Mexiko-Stadt. Es geht um die Frage, ob die Staats- und Regierungschefs für die reale Wirtschaft dasselbe rooseveltsche Prinzip befolgen werden wie für die Finanzen: so viele Neufinanzierungsphasen wie zur Rettung nötig sind. Wenn es beim ersten Mal nicht funktioniert, muss man es erneut versuchen.

Aus deutscher Sicht

Angela Merkel gegen den Rest der Welt

„Europa ist der gefährlichste Krisenherd der Weltwirtschaft. Aus Sicht der wichtigsten Verbündeten kann die Lösung nur aus Deutschland kommen, Merkels Sparkurs gilt als massiver Fehler“, kommentiert die Süddeutsche Zeitung. „Die Konfliktlinien zwischen Sparen und Wachsen sind nach Camp David unverändert geblieben: Auf der einen Seite steht Deutschland, auf der anderen der Rest der Welt" so das Blatt weiter.

Merkels Kurs mag im Inland sehr populär sein, international ist sie, wenn es darauf ankommt, isoliert. Die Bundesregierung wird gut daran tun, sich zu konkreten Maßnahmen der Wachstumsförderung zu entschließen, aus politischen wie aus sachlichen Gründen. Zunächst die politischen: Nach jüngsten Äußerungen aus Paris wird Hollande notfalls auf ziemlich ruppige Weise seine Vorstellungen von Wachstumspolitik in Berlin durchsetzen. Deutschland und Frankreich müssen aber eine neue Balance finden, um als Herz der europäischen Krisenpolitik funktionieren zu können. Für Deutschland geht es nicht darum, ein riesiges neues Konjunkturprogramm aufzulegen. Aber Berlin muss Wachstumspolitik in Europa wieder möglich machen. Darin liegt die Botschaft von Camp David 2012.

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