„Nein, aber...“ zum Fiskalpakt

Mitten in einer Wirtschaftskrise, die noch in konstantem Wandel steht, wäre es für die Iren sinnlos, im Referendum über den Fiskalpakt vom 31. Mai mit Ja zu stimmen. Der Pakt ist derzeit nichts anderes als eine Sammlung von Strafmaßnahmen für disziplinlose Vertragsstaaten. Meldet euch doch später wieder, meint Fintan O’Toole.

Veröffentlicht am 30 Mai 2012 um 10:19

Nehmen wir einmal an, Sie erhalten einen Anruf von ihrer Rechtsanwältin – nennen wir sie Angela. Sie bestellt Sie in ihre Kanzlei. Sie zeigt Ihnen die Strafklausel in einem Vertrag: In dieser Klausel steht, welchen Strafen Sie sich aussetzen, falls Sie vertragsbrüchig werden.

Sie erklärt Ihnen, dass Sie das jetzt gleich unterschreiben müssen, sonst bekommen Sie einen Riesenärger. „Aber“, fragen Sie, „wo ist denn der Rest des Vertrags?“ „An dem arbeiten wir noch. Das geht Sie nichts an. Unterschreiben Sie einfach hier.“

Das ist eine ziemlich gute Analogie für die absurde Situation, in der wir uns mit dem Fiskalpakt befinden. Der Vertrag – darüber sind sich heute fast alle einig – ist nicht der neue politische Vertrag, der die Europäische Union aus einer potentiell existenzgefährdenden Krise retten wird.

Er ist nur die Strafklausel. Er hat weder Hand noch Fuß, solange wir nicht wissen, um welche Abmachungen es tatsächlich geht. Uns unterschreiben zu lassen, bevor wir überhaupt wissen, was im Rest des Vertrags steht, ist die reinste Missachtung.

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Angesichts einer solchen Missachtung kann das irische Volk nur einen einzigen rationalen Weg einschlagen, nämlich den Rückgriff auf das, was es besonders gut kann: ausweichen, hinhalten und sich herausreden. Die Stunde für unsere finessenreichen Winkelzüge hat endlich geschlagen.

In „1066 And All That“, einem humorvollen Buch über die britische Geschichte, spaßen die Autoren, dass die Iren jedes Mal, wenn die Engländer dachten, sie hätten eine Antwort auf die „Irlandfrage“, einfach die Frage änderten.

Im Kontext der anglo-irischen Beziehungen ist das ein ziemlich guter Witz. Doch wenn es um Europa geht, ist die Änderung der Frage in der Tat eine gängige irische Praktik. Wir haben sie zweimal eingesetzt, erst 2001-2002 mit dem Vertrag von Nizza und dann 2008-2009 mit dem Vertrag von Lissabon.

Vor die Frage gestellt, ob Ja oder Nein, stimmten wir mit „Nein, aber ja“: Zieht ab, kommt wieder, stellt uns eine etwas andere Frage und wir sagen dann schon Ja. Diese Kapitel gehören nicht zu den glorreichsten der irischen Demokratie.

Sie stehen für das Schlüpfrige an so vielen Aspekten unserer politischen Kultur. Doch vielleicht ist es jetzt an der Zeit, unsere schlüpfrige Seite zu begrüßen. Vielleicht ist „Nein, aber ja“ als Antwort auf die beleidigende Absurdität, mit der wir konfrontiert sind, ehrlicher und aussagekräftiger als alles andere, was uns zur Verfügung steht.

Die Regierung hätte das Referendum ganz offensichtlich verschieben müssen, weil seine Bedeutung durch die europäische Krise absolut unklar wird. Das wäre noch nicht einmal besonders mutig gewesen.

Nicht nur weigert sich Frankreich, den Vertrag „so wie er ist“ zu unterschreiben, sondern sogar Deutschland musste die Ratifizierung verschieben.

Die [irische] Regierung jedoch hat derart Angst davor, auch nur einen Zoll vom Weg der vermeintlichen Rechtschaffenheit abzuweichen, dass sie roboterhaft nach vorne drängt.

Das stellt die Wähler vor ein Dilemma. Die Alternative zwischen Ja und Nein drückt bei weitem nicht die öffentliche Meinung aus. Die meisten Wähler gehören meiner Ansicht nach zu einer der folgenden beiden Seiten: a) Ja, weil es keine Wahl gibt, b) Nein, aber fragt uns doch später noch einmal, wenn ihr eine Wachstumsstrategie ausgearbeitet habt.

Ersteres – „wir müssen ja“ – ist eigentlich kein Grund, mit Ja zu stimmen, sondern eher ein Grund, einen leeren Stimmzettel abzugeben. Wenn man keine Wahl hat, dann ist ein Referendum eine Farce.

Eine Parodie der Demokratie. Die einzige Möglichkeit, ein kleines bisschen zivilen Respekt zu retten, wäre eine massive Menge leerer Stimmzettel.

Die zweite Möglichkeit ist „Nein, aber...“. Damit wird anerkannt, dass es einen Kontext gibt, in dem der Fiskalpakt tatsächlich einen Sinn ergibt. Gäbe es zum Beispiel ein ernsthaftes Bekenntnis zu einer langfristigen europäischen Investition zugunsten des Wachstums, dann würde das die irische Haushaltsarithmetik radikal verändern.

Ebenso wäre es mit einer echten europäischen Resolution über die Banken, damit die massiven Kosten für die Rettung der Banken nicht mehr die Bürger belasten. Aber wir wissen einfach nicht, ob oder in welchem Ausmaß das Wiederaufleben der Krise solch ernsthafte Strategieänderungen erzwingen wird.

Ein Nein – mit der stillschweigenden Aufforderung, doch wiederzukommen, wenn ein Gesamtbild zu sehen ist – mag die ehrlichste Antwort auf die Forderung sein, in Unwissenheit eine Entscheidung zu treffen.

Es wäre auch eine verantwortungsvolle Handlung als Bürger Europas, die zu einem Richtungswechsel anregt, ohne den sich die EU selbst zerstören wird.

Die Frage ändern, das ist eine irische Spezialität, die heute für Europa eine grundlegende Notwendigkeit ist.

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