Gegenüber der EU in Hass und Liebe vereint

Die Europafreunde halten Brüssel für das Allheilmittel und die Euroskeptiker behaupten, es ist die Quelle allen Übels. Doch sind sie wirklich so verschieden? Das fragt Spiked-Redakteur Brendan O’Neill.

Veröffentlicht am 12 Juni 2012 um 10:56

Im Laufe des letzten Jahres ergab sich mit der Intensivierung der Eurokrise eine wirklich interessante Enthüllung – nämlich dass die Befürworter und die Skeptiker Europas gar nicht so verschieden sind. Tatsächlich werden Europafreunde und Euroskeptiker von ganz ähnlichen Impulsen und ähnlichen antidemokratischen Instinkten angetrieben.

Beide Gruppen scheinen erpicht darauf zu sein, die Nationalregierungen und überhaupt die Nationalstaaten ihrer Verantwortung für das politische und wirtschaftliche Chaos zu entbinden.

Durch antidemokratischen Instinkt vereint

Der „Europhile“ tut dies, indem er vor Brüssel katzbuckelt und an die EU-Institutionen appelliert, sie sollen doch mehr für die Rettung Europas tun. Und der Euroskeptiker tut es, indem er der EU für so gut wie alles, das falsch läuft, die Schuld zuschiebt und Brüssel wie eine Art Todesstern behandelt, der aus jedem Quadratzentimeter Europas allen Anstand herausgesogen hat.

Der Befürworter Europas scheint blindes Vertrauen in die EU zu haben und sie als die Lösung für jedes Problem zu betrachten, während der Euroskeptiker eine bornierte Abneigung gegen die EU hat und sie als die Ursache für jedes Problem sieht.

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Gemeinsam haben sie die Überzeugung, dass die EU verantwortlich ist. Sowohl die Darstellung der EU als Retterin Europas als auch ihre Darstellung als Zerstörerin Europas werden instinktiv untermauert: „Nationalregierungen tragen keine Schuld an dem, was schief gegangen ist.“

Auf die Frage: „Hat die EU die Demokratie getötet?“ würde ich antworten: „Nein, hat sie nicht.“ Die EU versteht sich besser als etwas, das aus dem Tod der Demokratie in Europa hervorging, gebildet von Nationalregierungen, die das Konzept der Souveränität und der Demokratie aufgegeben hatten. Die EU folgt auf den Niedergang der europäischen Demokratie anstatt ihn zu initiieren.

In den letzten 40 Jahren lag die echte treibende Kraft hinter der EU in der Feigheit und im Opportunismus der Nationalregierungen, nicht in den finsteren Ambitionen von Brüssel oder Berlin.

Nationale Führungspolitiker, die sich ihren eigenen Bevölkerungen zunehmend entfremdet fühlten, bildeten eine postsouveräne Institution, in der sie sich erfolgreich verstecken konnten.

EU als zwiespältige Entscheidungsinstanz

Ein gutes Beispiel dafür gab es in den späten 1990er Jahren: Damals akzeptierte die britische Regierung die europäische Regelung über die Senkung des Mündigkeitsalters für homosexuelle Handlungen von 18 auf 16 Jahre. Das beabsichtigte die Regierung ohnehin, doch da sie mit Streitigkeiten rechnete, erlaubte sie effektiv Europa, an ihrer Stelle die Entscheidung zu treffen.

Die EU bietet den Vorteil, dass die Regierungen handeln können, ohne sich mit lästigen öffentlichen Debatten aufhalten zu müssen und ohne moralische Verantwortung zu übernehmen.

Natürlich sind die Nachteile dieser isolierten Beschlussfassung enorm und tiefgreifend. Denn je mehr sich die Nationalregierungen von ihren Bevölkerungen abkapselten, desto unfähiger wurden sie, echte Führung auszuüben. Je mehr sie sich in die EU-Institutionen flüchteten, desto wirklichkeitsfremder und irrationaler wurden sie.

Eine frühe Warnung war 2010 der Vulkanausbruch in Island, als die führenden Politiker praktisch durchdrehten, den Flugzeugverkehr stoppten und Europa zum Stillstand brachten. Das war eine direkte Konsequenz ihrer Selbstisolierung und ihrer daraus folgenden Unfähigkeit, die Realität anzugehen oder Führungsqualitäten zu beweisen.

Die Gefahren der eigenen Isolierung sind an der Eurokrise noch deutlicher zu sehen. Kein Politiker in Europa hat auch nur die geringste Ahnung davon, wie man mit der Krise umgehen soll, eben weil jeder Politiker in Europa die letzten Jahrzehnte damit zugebracht hat, es zu vermeiden, ernste Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen, eine Führungsperson zu sein.

Die zunehmende „EU-Perspektive“, der Gedanke, politische Führung sei zu hart und technokratische Beschlussfassungen seien vorzuziehen, hat die Eurokrise direkt verschlimmert.

Doch die Euroskeptiker liegen falsch, wenn sie Brüssel als den alleinigen Zerstörer der Demokratie, als ein wütendes Biest betrachten, das aus „Little Englanders“#, irischen Landwirten und armen Griechen Hackfleisch macht.

Denn die grundlegende Dynamik bei der Bildung der EU war immer, dass Nationalregierungen politische Autorität an die EU-Institutionen abgeben und von ihrer eigenen Souveränität abrücken.

Euroskeptiker, die dem „Bösen Brüssel“ die Schuld geben, sind nicht so anders als Europabefürworter, die sich vor dem „Guten Brüssel“ verneigen. Heute ist der Aufstieg einer respektablen Form der Euroskepsis zu sehen. Von Staatspräsident Hollande in Frankreich bis zu SYRIZA in Griechenland schimpfen heute viele Politiker darüber, Brüssel habe Europa ruiniert.

Doch diese Attacken auf Brüssel sind auch dazu vorgesehen, die Nationalregierungen aus der Verantwortung zu nehmen. Wenn Hollande Frankreich als Opfer der EU-Entscheidungen darstellt, dann spielt er dasselbe Spiel wie die Regierungen, die die EU-Entscheidungen einmal wärmstens willkommen hießen, – er versucht zu vermeiden, dass seine nationalen Institutionen für die Geschehnisse in Frankreich verantwortlich gemacht werden.

Merkel verkörpert die schizophrene Hass-Liebe

Diese schizophrene Einstellung gegenüber der EU zeigt sich am besten an der Art und Weise, wie Angela Merkel heute behandelt wird.

Mir tut Frau Merkel schon fast Leid. Manche beschreiben sie als eine Hexe im Hitler-Stil, die Europa demoliert hat. Doch von anderen wiederum wird sie als potentielle Retterin Europas hochgehalten, Staatschefs rufen sie zur Rettung der Eurozone und der leidenden Länder auf.

Sogar Polen will jetzt von Deutschland gerettet werden, was man in den Geschichtsbüchern rot anstreichen kann. Der polnische Außenminister hat gesagt: „Ich fürchte die deutsche Tatenlosigkeit mehr als die deutsche Macht.“

Diese Erklärung resümiert das derzeitige infantile Verhalten gegenüber Merkel und gegenüber der EU im Allgemeinen. EU-Macht wird als gefährlich angesehen, aber EU-Untätigkeit ebenfalls. Manche meinen, die EU zerstört ganze Nationen, andere finden, sie tut nicht genug, um die Länder zu retten.

Die Art, wie Merkel und die EU heute behandelt werden, erinnert mich an einen Spruch von Homer Simpson über Bier: Es sei „die Ursache und die Lösung für alle Probleme im Leben“.

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