Europa hat kein Monopol auf Demokratie

Entrüstet verwehrt sich José Manuel Barroso beim G20 gegen jegliche Nachhilfe in Sachen Demokratie aus den Schwellenländern. Dabei habe Europa nicht nur ein Demokratiedefizit, sondern mangele gerade in der Eurokrise an Legitimtät. Ein Blick über den Tellerrand kann da nicht schaden, schreibt ein belgischer Chefredakteur.

Veröffentlicht am 20 Juni 2012 um 15:25

José Manuel Barroso war nicht immer der Mann an der Spitze einer Europäischen Kommission, welche die Finanzkrise nicht in den Griff bekommt. In seiner Jugend litt sein Geburtsland Portugal unter der Diktatur. Sein politisches Engagement wurzelt in einer authentisch demokratischen Überzeugung.

Als er auf dem G20-Gipfel von Los Cabas verlauten ließ, dass Europa von niemanden Nachhilfe in Sachen Demokratie brauche, und schon gar nicht von Ländern die gar keine Demokratien seien, war dies nicht der Ausdruck einer zufälligen schlechten Laune. Es ging ihm um etwas, an das er zutiefst glaubt.

Dennoch gibt es bei seiner Argumentation zwei Probleme. Das erste ist, dass Europa eine weniger demokratische Struktur besitzt, als er vorgibt. Es klafft eine Lücke zwischen Bevölkerung und EU-Verwaltung. Zum Teil ist dies die Folge der perversen Gewohnheit der Staats- und Regierungschefs, alles, was in Europa falsch läuft, „Brüssel“ zuzuschreiben.

Inszenierte, unvollkommene Demokratie

Das ist aber nicht alles. Europa ist die edle und heldenhafte Reaktion einer politischen Elite auf den Zweiten Weltkrieg. Als solche ist es mit Abstand das wichtigste politische Projekt unserer Zeit. Aber allmählich zeigt sich, dass dieser Entstehungsgrund nicht ausreicht, um den Einigungsprozess dauerhaft zu legitimieren.

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Noch bevor die Eurokrise alle Aufmerksamkeit auf sich zog, wurde es immer schwieriger eins zu bleiben, sowohl bei der EU-Erweiterung als bei der Vertiefung der europäischen Integration. Solange der Motor der Union mehr Wohlstand, Sicherheit und Freiheit war, viel das aber nicht so auf. Was uns zum zweiten Problem bei der Bemerkung Barrosos in Mexiko bringt.

Selbst wenn man Europa als eine, wenn auch inszenierte und deshalb unvollkommene, Demokratie sieht, kommt man nicht um die Feststellung herum, dass sein Wachstumsmodell äußerst müde aussieht. Regionen, wo unser rheinländisches Denken nicht existiert, kennen sicherlich größere soziale Widersprüche und Ungerechtigkeiten. Sie sind weniger stabil, mit größeren Schocks zwischen Euphorie und Depression.

Demokratischer und effizienter

Wir aber sind bestenfalls ein überlegenes Gesellschaftsmodell, das dem „größten Glück für die größte Anzahl“ am nächsten kommt. Doch gibt es Momente, in denen andere Systeme — hier die geschmeidigen Amerikaner, dort die dynamischen Chinesen — eine wirtschaftliche und politische Konkurrenz darstellen, der das behäbige und alte Europa nicht mehr gewachsen scheint.

Die beiden Grundprobleme Europas verstärken sich gegenseitig. Das Unbehagen der Bürger über die undurchsichtige politische Beschlussfindung wächst heute schneller, nun da sich der Entscheidungsprozess unfähig zeigt, den Eckpfeiler der Einigung, den Euro, aus dem Teufelskreis zu retten. Die Angst ist daher berechtigt, dass ein Scheitern des Euro die europäische Integration tödlich verwunden könnte.

In seiner Erklärung legt Barroso, vielleicht unbewusst, den Finger auf die eigentliche Wunde: Kann Europa gleichzeitig demokratischer und effizienter, heißt, politisch als auch wirtschaftlich stärker sein? Oder schließen sich diese beiden Ziele gegenseitig aus?

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