Gut für die glückliche Globalisierung

Die Europäische Union muss ihre Bürger besser gegen Populismus schützen, ansonsten wird die Zeit der zweiten Globalisierung, in der wir heute leben, in einer Krise ungeahnten Ausmaßes enden, warnt der Philosoph Paul Scheffer.

Veröffentlicht am 15 April 2010 um 14:05

Zur Weltausstellung 1867 erklärte Victor Hugo: "All diese Gleise die in die verschiedensten Richtungen nach Sankt Petersburg, Madrid, Neapel, Berlin, Wien, London zu führen scheinen, führen alle zum selben Ort: den Frieden." Auf die Begeisterung folgte die brutale Ernüchterung des Ersten Weltkriegs. Die Zeit zwischen 1870 und 1914 bezeichnet man allgemein als erste Globalisierung. Erst wieder ab 1970 sollte es eine vergleichbare wirtschaftliche Internationalisierung geben. Globalisierung wächst nicht kontinuierlich, sondern es gibt Höhen und Tiefen. Ohne starke Institutionen und grenzübergreifende Demokratie könnte die heutige Zweite Globalisierung mit Krisen und Konflikten enden.

Nicht nur in Europa, auch in Amerika, Asien und Australien gewinnen Polit-Populisten an Gewicht. Und überall werden die ethnischen Minderheiten — das Gesicht der Globalisierung — zum Sündenbock gemacht. Der Soziologe Manuel Castellsbeschreibt den Konflikt, der auf der Demokratie lastet: "Man beobachtet immer mehr eine Konfrontation zwischen einer kosmopolitischen Elite, die Tag für Tag weltweit verkehrt und lokalen Gemeinschaften, die sich in ihren Regionen verschanzen, Bollwerk gegen diese Makro-Ebene." Ein großer Teil der Bevölkerung verschanzt sich und fordert Sicherheit. Globalisierung verlangt ein Sich-Öffnen, aber auch Schutz.

Mehr Europa als Antwort auf den Populismus

Die heutige Globalisierung zwingt einmal mehr die Länder Europas, die alten Differenzen zu überwinden. Der Aufstieg Asiens in den Neunzigerjahren gab den Anstoß zur Schaffung des europäischen Binnenmarkts und zur Einführung des Euro. Man kann zahlreichen Politikern und Meinungsführern den Vorwurf machen, die Einigung Europas allzu systematisch als Bürokratiemonster zu präsentieren, das sich in alles einmischen will. Stellt doch die internationale Zusammenarbeit — in erster Linie die Europäische Union — einen gewaltigen Unterschied der heutigen Situation mit der von 1914 dar. Das Meistern von Krisen wie beispielsweise die Balkankriege oder die Finanzkrise hängt stark von intensiver, grenzübergreifender Zusammenarbeit ab.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Als Antwort auf den Populismus brauchen nicht weniger, sondern eher mehr Europa. Vom welchem Europa sprechen wir? Ein Europa, das als Schutzschild die harten Schläge der Globalisierung dämpft und Raum schafft, unsere Gesellschaft nach unseren Vorstellungen zu organisieren. Die europäische Einigung muss in der Überzeugung geschehen, dass wachsende weltweite Abhängigkeiten neben einer Weltoffenheit auch nach Schutz verlangen. In vielen Bereichen muss ein neues Gleichgewicht geschaffen werden. Nehmen wir den Energiesektor: Es gibt viele gute Gründe, unabhängiger von der Erdölreserven zu werden. Gerade die Abschaffung der innereuropäischen Grenzen erleichtert es, Schritte in diese Richtung zu tun.

Union im Dienste der Mitgliedsstaaten, nicht umgekehrt

Bis jetzt funktioniert die Union nicht ausreichend wie eine schützende Hand. Das griechische Debakel scheint diesen Eindruck zu bestätigen. Doch wurde Europa genau auf diese Weise geschaffen: zwei Schritte nach vorn, einen Schritt zurück. In einem halben Jahrhundert nahm das Gebilde Form an, durch Verhandlungen und Kompromisse. Es ist folglich unfassbar, dass sich die politische Mitte in Sachen Europa geschlagen gibt. Europa hat eine wichtige Rolle dabei zu spielen, die Erosion der nationalen Parlamente einzudämmen, sind genau sie es, die das Ganze tragen. Die Bürger können nur für die einmalige Annäherung, die in Europa stattfindet, begeistert werden, wenn klargestellt wird, dass die Union im Dienste der Mitgliedsstaaten agiert und nicht umgekehrt.

Vor mehr als einem Jahrhundert zeichnete uns Victor Hugo ein verlockenderes Bild. Wie immer dem auch sei, die Einigung Europas in der Nachkriegszeit hat mächtig dazu beigetragen, dass wir seither in unserem Teil der Welt dauerhaft in Frieden leben. Dass die Hochgeschwindigkeitstrassen, die derzeit überall gebaut werden auch in eine Richtung gehen werden — zum Frieden — ist vermutlich überzogen, doch die Einigung unseres Kontinents hat ein Fundament geschaffen, das es erlaubt, der Welt selbstbewusst entgegenzutreten. (js)

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema