Urnen frei für die Direktwahl des EU-Präsidenten

Warum wissen die Europäer mehr über Obama und Romney als über Barroso und Van Rompuy ?
Weil sie die EU-Spitze nicht selber wählen können. Der beste Weg, um das „demokratische Defizit“ zu beseitigen, wäre den Präsidenten per Direktwahl zu bestimmen, meint der schwedische Journalist Martin Ǻdahl.

Veröffentlicht am 11 Juli 2012 um 14:41

Die Eurokrise war auf dem Höhepunkt, als ich einen hohen Beamten der EU-Kommission traf. Er beschrieb mir seine berufliche Situation folgendermaßen: Nach der Wahl François Hollandes zum französischen Staatspräsidenten hat die EU-Kommission endlich wieder ein bisschen Macht zurückbekommen.

Zuvor stellte „Merkozy“, das Tandem von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, systematisch die anderen europäischen Partner vor vollendete Tatsachen. Doch mit François Hollande haben sich Frankreich und Deutschland verkracht. Die Kommission fand sich in der Vermittlerrolle wieder. So wird also eine der drei größten Volkswirtschaften der Welt inmitten einer akuten Krise regiert.

Was diplomatisch als „demokratisches Defizit“ bezeichnet wird — die Tatsache, dass wir, die europäischen Bürger, nicht die Führung der Europäischen Union wählen dürfen, ebenso wie die Tatsache, dass ebenjene uns keinerlei Rechenschaft schuldig ist — ist dermaßen offensichtlich, dass es schon peinlich ist.

Die großen Länder — im Grunde nur zwei — sind am Ruder. Entscheidungen werden hinter geschlossenen Türen getroffen. Es sind politischer Vertreter, die in nationale Funktionen gewählt wurden, welche über alle Bürger Europas entscheiden. Keiner von ihnen hat den Wählerauftrag bekommen, um im Namen Europas zu sprechen.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Wenn sich Wähler in Brüssel abreagieren

Darum wird heute das, was bislang nur eine aussichtslose Idee schien, zu einer gängigen Forderung und einer politischen Notwendigkeit: Europa muss die Befugnis erhalten, seine politische Führung direkt zu wählen. Die wichtigste Funktion einer Demokratie ist zweifelsohne, dass man den Politiker, den man nicht mehr will, mit dem Urnengang abwählen kann, um ihn durch jemand anderen zu ersetzen.

Die Wähler haben keine Ahnung, was sie tun sollen. Die Menschen in der Europäischen Union wissen mehr über Romney, Obama, Clinton und McCain, denn über Barroso und Van Rompuy. Obwohl wir nicht selbst in den Vereinigten Staaten wählen, interessieren uns die Wahlkämpfe dort mehr, als die in Europa.

Oft bekommen wir zu hören, man solle dem Europäischen Parlament mehr Macht einräumen. Doch fehlt es ihm an Legitimität, da die Wähler sich eigentlich nur zwischen zwei nationalen Abstimmungen abreagiert haben. Es gibt in der Tat keine echten Alternativen innerhalb des Europäischen Parlaments. Die Fraktionen machen keinen gemeinsamen Wahlkampf und haben weder ein gemeinsames Programm, noch eine erkennbare gemeinsame politische Linie.

Ein anderer Vorschlag: die Fusion der „echten“ Parlamente, will heißen, der nationalen, damit diese eine permanente Kommission für Europäische Angelegenheiten schaffen, deren Vertreter sich in Brüssel träfen. Dies stärkt zwar die Legitimität, wäre aber keine Lösung für das grundlegende Problem: Wie kann ich wählen, um die Politik der EU zu verändern?

Deshalb müssen wir unsere politische Führung direkt wählen können. Nur dann können sich europaweit rund um die Kandidaten und deren Wahlkampf die Ideen herauskristallisieren. Vorzugsweise sollte der EU-Ratspräsident in zwei Wahlgängen gewählt werden, bei dem die beiden Sieger der ersten Runde in die Stichwahl kommen, um eine Mehrheit zu sichern.

Der Druck muss von unten kommen

Die politischen Strömungen Europas wären gezwungen, sich hinter ihren Kandidaten zu stellen. Derjenige, der neben Angela Merkel und François Hollande am Verhandlungstisch sitzt, hat die Stimmen von Hunderten von Millionen Bürgern Europas hinter sich. Unabhängig davon, welche die genauen politischen Funktionen dieses Politikers sein werden, er oder sie wäre berechtigt, im Namen Europas zu sprechen.

Ein oft gehörtes Missverständnis besagt, dies würde zu mehr Föderalismus und den Vereinigten Staaten von Europa führen. Dabei könnte derjenige, der das Vertrauen der EU-Bürger gewonnen hat, genau so gut sein Mandat dazu nutzen, die Macht der Union zu verringern und den Mitgliedsstaaten Kompetenzen zurückzugeben. Mit der Reform soll nicht festgelegt werden, was entschieden werden darf oder muss, sondern wie Entscheidungen getroffen werden sollen.

Ein weiterer Irrtum ist die Behauptung, die Deutschen, Franzosen oder Italiener würden ohnehin alle Wahlen gewinnen. Auch die großen Nationen stoßen — leider — auf Rivalitäten und Antipathie. Für die Kandidaten aus den kleinen, harmlosen Ländern könnte darin durchaus ein Vorteil bestehen. Und in den großen Ländern könnte das Vertrauen der Menschen an untypische Kosmopoliten gehen, wie den ehemaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer, um sich sowohl um [die kleine südschwedische Ortschaft] Brålanda als auch Berlin zu kümmern.

Vorzugsweise sollte diese Idee nicht im Europa von oben Gestalt annehmen, nach endlosen Verhandlungen in Brüssel oder in den Köpfen der europäischen Spitzenpolitiker — so geschehen bei den zehn europäischen Außenministern, die im Rahmen ihres Umbauplans für die EU einen neuen Super-Staat schaffen wollen. Der Druck für die Direktwahl des EU-Ratspräsidenten muss vom Europa von unten, von den Bürgern selbst, ausgehen. (js)

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema