Nachrichten Das Baltikum und die Krise / 2
"Hände weg von den Rentnern". Gewerkschaften protestieren in Riga, Juni 2009

Lettland, der Tiger hinkt

Mit der höchsten Arbeitslosenrate innerhalb der EU hat sich Lettland heute endgültig von den Jahren des kapitalistischen Booms verabschiedet. Viele Bürger sehnen sich nach den trüben Gewissheiten des Lebens zu Zeiten des Kommunismus, berichtet The Independent.

Veröffentlicht am 19 April 2010 um 15:00
"Hände weg von den Rentnern". Gewerkschaften protestieren in Riga, Juni 2009

Das kapitalistische Schwein ist wieder da. Mit seinen rosigen Wangen, die Aktentasche zwischen den Füßen voll mit dem Geld der Arbeiter, starrt das fette Tier gegenüber vom lettischen Parlament gierig von einem Plakat auf Rigas Hauptstraße. Ganz in der Nähe drängen sich arbeitslose Männer in Schlupfmützen und Anoraks um ein Feuer. Vor zwei Jahren noch hätte man jegliche öffentliche Darstellung solch kommunistisch anmutender, antikapitalistischer Klischees für Wahnsinn gehalten: Nachdem es vor fast zwanzig Jahren das sowjetische Joch abgeschüttelt hatte, genoss Lettland einen noch nie dagewesenen Wirtschaftsboom. Doch jetzt ist Schluss mit lustig.

Letten wie der 33-jährige Gints Berneckis glauben nicht mehr an das westliche Wirtschaftsmodell. Wie viele tausend andere in Lettland, wo die Arbeitslosenrate derzeit bei 23 Prozent liegt, verlor er letztes Jahr seinen Job als Computerverkäufer. "Ja, die kapitalistischen Schweine sind wieder da. Sie hauen mit unserem Geld ab und die Regierung schiebt es ihnen in die Tasche", spöttelt er. Seit Anfang des Jahres trotzt er mit anderen Demonstranten dem schlimmsten lettischen Winter seit Jahrzehnten und kampiert in einer kleinen Zeltstadt gegenüber dem Landesparlament. "Alles wird gekürzt. Krankenversicherung, Erziehung, Renten – und die Leute reisen mengenweise aus", sagt er.

Pleite - "die Leute hier haben Schlimmeres erlebt"

Berneckis gehört zu einer immer größer werdenden Bewegung von Letten, die dagegen protestieren, wie die Regierung mit der schweren Wirtschaftskrise umgeht. Nach Ansicht vieler ist die Krise hier noch schlimmer als in Griechenland. Sie erreichte ihren Höhepunkt im Jahr 2008, als die Regierung die zweitgrößte Bank Lettlands übernehmen musste, um sie vor dem Zusammenbruch zu retten. Seitdem steht sie am Rand des Bankrotts. Als Vorgeschmack auf das, was Griechenland vielleicht bevorsteht, hat Lettland ein 7,5 Mrd. Euro schweres Rettungspaket beim IWF und bei der EU beantragt, welches auch gewährt wurde. Doch die vom IWF auferlegten Bedingungen zwangen Riga, eine Menge drakonische Maßnahmen einzuleiten, die das Haushaltsdefizit von derzeit 12 Prozent des BIP bis 2012 auf drei Prozent drücken sollen. Auf der Tagesordnung stehen brutale Ausgabenkürzungen sowie Steuererhöhungen.

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Zwischen 2005 und 2008 verdoppelten sich in Lettland die Löhne, und die Kreditaufnahmen nahmen jährlich um ca. 60 Prozent zu. Beide Entwicklungen heizten eine massive Wirtschaftsblase auf, die dem Land seinen Ruf als "baltischer Tiger" einbrachten. Im Jahr 2008 platzte die Blase. Die Immobilienpreise fielen in den Keller und die Ausgaben der Verbraucher stürzten ein. Riesige Investments in Bauprojekte trockneten aus und die Arbeitslosigkeit stieg auf das höchste Niveau, das je in einem EU-Mitgliedsstaat erreicht wurde. Lettlands Wirtschaft schrumpfte im letzten Quartal um knapp 17 Prozent, nachdem der Einzelhandel um ein Drittel zurückgegangen war. Und doch beteuert die Regierung, sie plane nach wie vor die Einführung des Euro im Jahr 2014. "Ohne den IWF und die EU wäre Lettland heute völlig pleite", meint Jens Fischer, ein in Riga ansässiger Politik- und Wirtschaftsexperte. "Aber es ist nicht wie in Griechenland – die Leute hier haben während der Sowjetzeit Schlimmeres erlebt und sie beschweren sich nicht."

Wirtschaft schlägt Wunden in Regierung

Im sorgfältig restaurierten Stadtzentrum Rigas, das aus dem 14. Jahrhundert stammt, wimmelt es von Bettlern, und die meisten der smarten Westläden und -boutiquen, die sich ab Mitte der 2000er Jahre in der Stadt angesiedelt haben, sind leer. In dem Bestreben, Rigas Geschäftswelt in einen "Polterabend-Tourismus" umzuwandeln, verabschiedete die Regierung ein Gesetz zur Reduzierung der Mehrwertsteuer für Hotels. Das Problem dabei ist allerdings, dass dies auch die Bedingungen des IWF-Rettungspakets gefährdet. Weiter hat der düstere Zustand der Wirtschaft auch erste ernsthafte Wunden in die Regierung geschlagen. Im März musste sich Ministerpräsident Valdis Dombrovskis neue politische Partner suchen, nachdem fünf Kabinettsmitglieder der einflussreichen Volkspartei ihre Ämter niedergelegt hatten und seine Koalition zusammenbrach. Er leitet nun eine Minderheitsregierung. Die Parlamentarier gingen, weil sich Dombrovskis weigerte, Maßnahmen zu unterzeichnen, die die Qualen der Krise erleichtern sollten: Steuererhöhungen sollten hinausgezögert und die Anzahl von Ministerämtern in der Regierung reduziert werden. Seither brandmarkt er den Abgang als einen "direkten, unverkennbaren Versuch", vor den diesjährigen allgemeinen Wahlen die Regierung zu stürzen.

Aufgrund des politischen Aufruhrs warnen nun manche Beobachter davor, Lettland könne eine Zeit lang ohne dienstfähige Regierung bleiben und Investoren dadurch abgeschreckt werden. "Die politische Ungewissheit könnte das Vertrauen in die lettische Wirtschaft zerstören und erneuten Druck auf den Finanzmarkt ausüben", meint Violete Klyvenie, eine auf die baltischen Staaten spezialisierte Wirtschaftsanalystin. Die meisten Analysten denken jedoch, dass die strikten IWF-Bedingungen der mitgenommenen lettischen Regierung keine andere Wahl lassen als die Beibehaltung des bereits eingeschlagenen Kurses. "Es ist nicht sehr angenehm für ein Land, den IWF zu haben", sagte Dombrovskis kürzlich, mit Blick nach Griechenland, "doch wenn ein Land erst so weit ist, dass es einen Kreditgeber letzter Instanz benötigt, dann kann das gar nicht angenehm genug sein." (pl-m)

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