Europa ist jetzt offen. Passkontrolle am Stockholmer Flughafen, am Tag des schwedischen Beitritts zum Schengenraum, 25. März 2001. Da brach das Informationssystem zusammen.

Schengen ist das echte Europa

Erst als ihr Land im Jahr 2007 dem europäischen Raum des freien Verkehrs beitrat, fühlten sich die Polen wirklich als Teil der EU. Dieser sehr exklusive Club verkörpert für jene, die ihm nicht angehören, noch das Paradies, wie die Wochenzeitung Polityka berichtet.

Veröffentlicht am 20 April 2010 um 14:15
Europa ist jetzt offen. Passkontrolle am Stockholmer Flughafen, am Tag des schwedischen Beitritts zum Schengenraum, 25. März 2001. Da brach das Informationssystem zusammen.

Im Juni 1985 unterzeichneten Frankreich, Deutschland, Belgien, die Niederlande und Luxemburg in Schengen ein Abkommen, um schrittweise die Kontrollen an ihren gemeinsamen Grenzen abzuschaffen und den freien Personenverkehr einzuführen, für die Angehörigen der unterzeichnenden Staaten, aber auch die der anderen EU-Staaten und Drittstaaten. Die Bestimmungen dieses Abkommens traten im März 1995 in Kraft.

Damals fühlten wir uns wie zweitklassige Bürger, und dieses Gefühl hielt auch noch an, nachdem Polen 2004 der EU beigetreten war. Wir wurden an den Grenzen kontrolliert, während doch alle anderen – wohl bessere Europäer als wir – ihren Reisepass nie vorzeigen mussten. Wir mussten Schlange stehen, während sie weiterreisten, an den Außengrenzen der EU durch spezielle Einreiseschalter gingen und dadurch Zeit und Geld sparten.

Heute gehören auch wir zu diesen Privilegierten. Seit dem Eintritt Polens in den Schengenraum im Jahr 2007 vernachlässigen die im Westen Warschaus lebenden Polen den Frédéric-Chopin-Flughafen der Hauptstadt. Es ist weitaus zeitsparender, mit dem Auto an einen Berliner Flughafen zu fahren, und bald können wir auch eher von Berlin als von Posen oder Stettin aus nach Warschau fliegen. Es brauchte Schengen, um die Schwesterstädte Cieszyn in Polen und Český Těšín [Tschechisch Teschen] in der Tschechischen Republik einander anzunähern. Schengen ließ das in Lethargie versunkene Pommern wieder aufleben, die deutsch-polnischen Stadtgebiete von Zgorzelec-Görlitz und Słubice-Frankfurt (Oder). Das war nun endlich das Europa, von dem sie geträumt hatten, fanden die Polen.

Eine Sirene namens Schengen

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Gewiss, Berichte der deutschen Polizei zeugen von zunehmenden Autodiebstählen in den Gebieten nahe der polnischen Grenze, doch auch dort sind die Menschen zufrieden: Die Deutschen verkaufen mehr und der grenzübergreifende Handel blüht auf. Und doch ist Schengen weniger rosig, wenn man vom Osten der polnischen Ostgrenzen darauf blickt. Vor Schengen florierte in dieser Gegend der Handel mit Ukrainern und Weißrussen. Heute ist das goldene Zeitalter vorbei und das Eldorado beschränkt sich oft auf einen Arbeitsplatz, mit dem man gerade so über die Runden kommt, den einzigen, den es in dieser Region, die zu den ärmsten in der ganzen EU gehört, überhaupt gibt.

Die Gegner der Erweiterung des Schengenraums befürchteten einen Zustrom von Migranten aus dem Osten, ein Aufflammen der Kriminalität und auf allen Straßen bettelnde Zigeuner. Ganz offensichtlich waren diese Ängste unbegründet. Allerdings wird die EU mit Immigrationsproblemen konfrontiert, mit legalen und illegalen Einwanderern. So gut wie jeden Tag veröffentlichen die griechischen (aber auch spanischen, italienischen und französischen) Tageszeitungen Berichte über all jene, die nie im gelobten Land ankommen werden. Und über alle, die an den Grenzen der EU festgenommen wurden, oft dank High-Tech-Verfahren wie dem Herzschlagdetektor. Der Schengenraum übt eine so große Anziehungskraft aus, dass manche zu allem bereit sind: Die Passagiere eines ungarischen Tankwagens versteckten sich in Kakaopulver zur Herstellung von Schokoladeriegeln, und ein afghanischer Illegaler erfror fast zwischen den Orangen in einem Kühllaster.

Fahrkarte ins Paradies

Das Europäische Parlament verabschiedete eine Richtlinie, die für die gesamte EU eine gemeinsame Regelung über die Landesverweisung der illegalen Einwanderer einrichtet. Jedes Land muss sich entscheiden: reagieren oder abschieben. Die Staaten an den Grenzen des Schengenraums, wie Polen, müssen die Migranten festnehmen und sie wieder in das Land zurückschicken, aus welchem sie in die Zone eingereist sind. Grenz- und Polizeistreifen können jedermann überall, zu jeder Tages- und Nachtzeit anhalten und kontrollieren. Die polnischen Grenzbeamte können die Straffälligen auch auf deutscher Seite verfolgen und umgekehrt. Die Kriminellen sind hinter der Grenze nicht mehr sicher. Das Schengener Abkommen harmonisiert die polizeiliche Zusammenarbeit, die Politik im Bereich des Drogen- und Waffenschmuggels sowie die Kooperation von Justiz und Regierungen in Auslieferungs- und Asylrechtfragen.

Im Osten ist ein Schengen-Visum wie eine Eintrittskarte ins Paradies (obwohl Schengen auch wie eine neue Berliner Mauer aufgefasst wird, die diesmal von einem demokratischen Europa errichtet worden wäre). Eine Eintrittskarte, die nur schwer zu bekommen ist: Der Besuchsgrund muss gerechtfertigt, ausreichende finanzielle Mittel bewiesen und eine Rückfahrkarte vorgelegt werden usw. All diese Informationen werden von den Konsulaten überprüft, die durch das berühmte Schengener Informationssystem (SIS) miteinander verbunden sind. Das Verfahren kann mehrere Tage dauern.

Schweizer Populisten verlieren gegen Schengen

Das von der Mafia belagerte polnische Konsulat in Lemberg, dessen Registrierungssystem ständig unter Hackerangriffen liegt, ist der meistbeanspruchte Konsulardienst in ganz Europa. Aufgrund der komplexeren Kontrollverfahren verringerte sich jedoch seit dem Beitritt Polens zum Schengenraum die Anzahl der Visa, die das polnische Konsulat ausstellt. Mit nur einem Prozent abgelehnter Visumsanträge zeigt sich Polen jedoch relativ liberal – im Vergleich zu Frankreich, das für sein sehr restriktives Visumsregime bekannt ist. Jetzt, da es zum Schengengebiet gehört, ist Polen nicht mehr das Zielland, sondern nur noch der Transitpunkt auf dem Weg in reichere Länder: Deutschland, Frankreich, Schweiz.

In der reichen Schweiz, die Ende 2008 dem Schengengebiet beitrat, werden die Vorteile des Abkommens etwas verdrängt durch einen massiven Zustrom von Roma aus Rumänien und Bulgarien sowie Albanern, die aus Serbien und Mazedonien kommen. Plötzlich tauchten in Genf an allen Straßenecken, auf jeder Brücke, in jeder Straßenbahn und in jedem Bus Bettler auf, und mit ihnen mehr Müll, mehr Schmutz und der Eindruck eines Sicherheitsverfalls. Die Schweizer Populisten, die gegen einen Schengen-Beitritt gewesen waren, wollten das Betteln verbieten und die Roma sowie die langbeinigen slawischen Prostituierten verjagen. Die Zigeuner gingen vor Gericht und gewannen. Schengen hat gewonnen. (pl-m)

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