Ein Europa ohne Flieger

Wir hatten ganz vergessen, dass unser Kontinent so groß ist. Die durch die Aschewolke des Vulkans Eyjafjallajökull verursachte Unterbrechung des Flugverkehrs deckt Europas soziale und wirtschaftliche Schwächen auf, so Kolumnist Hamish McRae.

Veröffentlicht am 20 April 2010 um 15:19
Shane Halloran  | Pssst.

Wie anfällig unsere moderne Gesellschaft doch geworden ist. Ein Naturereignis, zugegeben ein recht ungewöhnliches, behindert nicht nur den Lauf des europäischen Lebens dadurch, dass der Großteil des Luftverkehrs eingestellt werden musste. Es hat in Wirklichkeit Europa von der Welt abgeschottet. Diese Ereignisse sollten uns darüber zu denken geben, wie unser Leben heute organisiert ist.

Die wichtigste Lehre, die wir aus den vergangenen Tagen ziehen müssen, ist ganz klar: Will man Menschen über weite Strecken befördern, muss man dies auf dem Luftweg tun. Gewiss, der Wasserweg ist noch unversperrt und die gigantischen Containerschiffe liefern nach wie vor Waren und Rohstoffe ab und nehmen unsere Exportgüter mit. Es ist möglich, wenn auch beschwerlich, auf dem Landweg und mittels Fährverbindungen innerhalb Europas zu reisen, obwohl letztere unter großem Druck stehen. Doch Europa ist riesig, wie mir nun bewusst wurde.

Eine Welt ohne Flieger: Isolation, Entdemokratisierung

Ohne billigen, schnellen Flugverkehr gibt es keine Wochenendreisen nach Estland, keinen Familienurlaub in Mallorca und keine paneuropäische Businesskonferenz in Deutschland. Aktivitäten, die den meisten von uns als alltäglich erscheinen, sind einfach nicht drin. Vom Urlaub einmal abgesehen... eine globale Geschäftszusammenkunft oder eine politische Konferenz sind unmöglich. Man stelle sich vor, die Aschewolke hätte Europa zum Zeitpunkt des Umweltgipfels in Kopenhagen im November überzogen. Sogar die großen Staatsoberhäupter hätten festgesessen...

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Unsere Welt würde ganz anders aussehen. Hier in Europa wäre es eine Welt, in welcher die Randgebiete leiden müssten, weil sie von der Kernzone abgeschnitten wären. Das wäre nicht nur schlimm für Estland, sondern auch für Schottland. Allgemeiner gesehen wäre Europas Beziehung zu den Vereinigten Staaten distanzierter. China würde sich schwerer tun, seine Waren in die USA zu verkaufen und sich stattdessen auf Asien konzentrieren. Vielleicht ist die große Wirtschaftskraft der Globalisierung heute so fest verwurzelt, dass sie überleben würde, doch der nächste Trend ginge dann zu einer regionaleren und weniger globalen Welt.

Die Welt würde sich auch entdemokratisieren, da das Reisen wieder zum Privileg der wenigen Reichen und Müßigen würde, wie vor hundert oder mehr Jahren. Wir vergessen leicht, dass billige Flugreisen in hohem Grade egalitär sind: Massen von Menschen können dadurch etwas Kostbares erleben – die Freiheit, andere Gesellschaften zu entdecken und andere Kulturen zu erkunden. Diese Lehre scheint mir weit wichtiger zu sein als die unmittelbaren Auswirkungen auf die Wirtschaft, die verständlicherweise jetzt so viel Aufsehen erregen.

Flugverbot: die Alternativen rücken ins Rampenlicht

Unsere globale Just-in-time-Produktion reagiert akut auf jede Störung, und das Chaos breitet sich nach Afrika und Ostasien aus. Es leiden nicht nur die Europäer. Manche haben das Gefühl, es sei ein wenig leichtfertig von uns, Gemüse oder Blumen außerhalb der Saison aus Kenia einzufliegen, doch dort hängt die Existenzgrundlage vieler Menschen von diesem Handel ab.

Es ist andererseits wichtig zu erkennen, dass nicht alles negativ ist. Denn wenn das Chaos die Geschäftswelt dazu bringt, robustere Produktions- und Vertriebssysteme zu entwerfen, dann wird das, was daraus entsteht, nicht nur effizienter, sondern auch besser auf unsere wirklichen Bedürfnisse und Wünsche zugeschnitten sein. Ein einfaches Beispiel: Die Computersuchsysteme für die europäischen Verkehrsmittel auf dem Landweg sind viel schlechter als für den Luftverkehr. Es müsste doch eigentlich genauso einfach sein, einen Zug oder einen Bus von Stockholm nach Brüssel zu buchen, wie einen Flug, und das ist ganz und gar nicht der Fall.

Zeit, ein riesiges Europa zu erschließen

Wenn diese Erfahrung uns lehrt, dass Europa riesig ist und dass so ein riesiges Gebiet besser koordinierte Infrastrukturen benötigt, dann ist das schon einmal ein Anfang. Doch es sollte nicht nur beim Anfang bleiben. Die unmittelbare Frage lautet: Wie können die bestehenden Infrastrukturen effizienter genutzt werden? Gibt es da zum Beispiel unnötige Bürokratie an den EU-Grenzübergängen? Weiter sollten die Verkehrsengpässe der Straßen- und Bahnnetze identifiziert werden, die Stellen, an welchen eine geringe Investition das ganze System beschleunigen könnte. Das Flugnetz wird irgendwann wieder funktionsfähig sein, vielleicht sogar bald, doch es wäre eine verpasste Gelegenheit, wenn die Erfahrungen nicht genutzt würden, um radikale Verbesserungen bei der Alternative des Landwegs vorzunehmen.

Die Feststellung, dass Menschen oft erst den wahren Wert der Dinge erfassen, wenn sie sie verlieren, ist ein Gemeinplatz... Doch die Ereignisse der letzten Tage erinnern uns daran, wie wahr das ist. Nun, zumindest manche von uns haben jetzt für eine Weile keine Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren. Und allen von uns, in ganz Europa, steht vorläufig kein Flugverkehr zur Verfügung. Wenn der also wieder da ist, versuchen wir doch dann, diese wunderbare Freiheit etwas bedachter, vernünftiger und sinnvoller zu nutzen. (pl-m)

Europäische Union

Flugverbot leert die Institutionen

"Leere Sitzreihen, ein bekanntes Bild in den EU-Institutionen. Doch aufgrund der Sperrung des europäischen Luftraums sind sie leerer denn je. Sitzungen werden vertagt oder abgesagt...", schreibt Le Soir und liefert die Liste der verkürzten, abgesagten oder vertagten Sitzungen gleich mit. Das für den 19. April in Luxemburg vorgesehene Treffen der EU-Landwirtschaftsminister wurde ohne neuen Termin abgesagt. Das Treffen der Finanzminister fand zwar statt, doch nahm die Anzahl der Teilnehmer ab Samstag rasant ab. "Jeder Minister wollte so schnell wie möglich wieder abreisen", schreibt die Tageszeitung aus Brüssel. "Darüber hinaus übernahm die spanische EU-Ratspräsidentschaft die Rückfahrtkosten — 20 Stunden im Bus — der akkreditierten Journalisten bis Brüssel."

Dass die Plenardebatte des Europäischen Parlaments dennoch um jeden Preis stattgefunden hat, brachte die Abgeordneten gegen ihren Parlamentspräsidenten Jerzy Buzek auf die Palme, schreibt Jean Quatremer auf seinem Blog Die Kulissen von Brüssel. Der zur Beerdigung von Lech Kaczynski abgereiste Buzek "konnte sich nicht aufraffen, die Plenardebatte abzusagen", obwohl er wusste wie "heikel" die Lage war. Nur mehr als hundert Abgeordnete von insgesamt 736 erschienen, fährt Quatremer fort. Die anderen steckten wegen der Sperrung des Luftraums fest. "Nach heillosem Durcheinander" wurde die Sitzung unterbrochen und soll am Mittwoch und nicht erst am Donnerstag fortgesetzt werden. Alle Abstimmungen wurden auf nächste Woche vertagt, da das Quorum für eine Abstimmung nicht erreicht wurde. Am Dienstag morgen war eine Debatte über die Folgen der Aschewolke angesetzt. "Als Antwort reicht es, die leeren Ränge des Sitzungssaals zu betrachten", witzelt Quatremer und verlangt: "Nur zum Spaß: Könnte das Parlament dem gemeinen Volk vielleicht die Kosten für diese überflüssige Sitzung nennen?"

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