Photo: Martin Gommel

Die Starbucks-Demokratie

Für den Schriftsteller George Steiner entstand Europa im Café. Doch nach der Rekordenthaltung bei den letzten Wahlen beklagt La Vanguardia, dass dieser Ort des Austausches nun nicht mehr existiert.

Veröffentlicht am 10 Juni 2009 um 16:18
Photo: Martin Gommel

Eine Tasse Kaffe ist viel mehr als nur eine Pause und ein Muntermacher. Seine schwarze Farbe scheint uns seinen tieferen Sinn zu vermitteln, ein wohltuendes Gefühl, das Symbol eines beginnenden Tages, der Höhepunkt eines Mittagessens oder die Flucht vor den langen Stunden, in denen nichts zu tun ist. Sie verkörpert die Illusion, nach der unser Geist sich neuen Wahrnehmungen öffnet, Verwirrungen sich klären und Unwohlsein abgewendet wird. "Wir treffen uns, um einen Kaffee zusammen zu trinken", ist eine Aussage, die den Wunsch nach einer Begegnung, die letztendlich für vertrauliche Mitteilungen, Nähe und Geselligkeit steht, außerordentlich gut veranschaulicht. "Ein kleiner Kaffee" sagt man mit einem Hauch von Zärtlichkeit. Wichtig ist es vor allem, dieses magische Wort auszusprechen, das zu einer Verabredung führen und die Kultur der Unterhaltung fördern kann.

In einer vor fünf Jahren in Amsterdam gehaltenen Konferenz mit dem Namen "Eine gewisse Idee von Europa" äußerte George Steiner anscheinend leichtfertig: "So lange wie es Cafés geben wird, wird auch die Idee von Europa fortbestehen." Und angesichts der massiven Stimmenthaltung und dem Wahlautismus der letzten Wahlen: 59,6 % Enthaltungen, die somit historisch niedrigste Wahlbeteiligung seit 2004, frage ich mich, was aus dem großen europäischen Café geworden ist.

Zwischen dem "Noisette" (Kaffee mit ein bisschen Milch) des Deux Magots (Pariser Café), dem "Maquillato" von Pedrocchi, in Padua, dem Wiener Kaffe, der im Hawelka (einem Wiener Café) mit Buchteln (in Dampf gedünsteten Krapfen) gereicht wird, ist der Kaffee schon immer die Agora des extravaganten Denkens und Lebens auf dem Alten Kontinent gewesen.

Die Geschichte Europas wird in den modernistischen Cafés geschrieben, in denen sich die Avantgarden treffen: das Café Florian in Venedig, in dem Giacomo Casanova seine Geliebten verführte und Proust von Zeit zu Zeit verschnaufte, der Tisch des Café de Flore, in dem Sartre seine Aufsätze zum Existentialismus verfasste, oder aber das Antico Caffè Greco in Rom, dessen Ruf als Nabel der Welt und seine nachmittäglichen Pausen Lord Byron, Schopenhauer, Wagner, Henry James, Leopardi, aber auch die Spanier Fortuny und Rosales verzauberten.

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Heute allerdings gibt es keine vor Geist sprühenden Zirkel mehr und keine Fliegen schmücken mehr die Hälse der Kellner. Sie rufen uns nur noch bei unserem Namen und dies auf eine seltsam störende Art und Weise wie bei Starbucks. Heutzutage macht man in Sportclubs, Flugzeugen oder Friseursalons mehr Bekanntschaften als in Cafés. Das sich mit jedem Tag ein bisschen weniger liebende Europa ist voll von unsozialen Räumen und von pragmatischen und problemlösenden Winden gebeutelt. Sozialisierung findet dank der sterilen Einsamkeit des Bildschirms im Internet statt. Keinerlei Spiralen von Rauch und nicht ein einziges auf eine Papierserviette gekritzeltes Gedicht. In den berühmten Cafeterias wie dem Canaletes in Zürich, die ihre Seele verloren haben, entscheidet sich das Europa der Sonderpreisverkäufe, des illegalen Straßenhandels mit selbst gebrannten CDs und der Internetcafés für Sicherheit und gegen Erfahrung.

Doch zwischen den wuchtigen Säulen und „Café crème“ ragen von nun an die Grünen des Alten Kontinents hervor. Und aus der Asche des Mai 68 erweckt der "Rote Dany", der laut der französischen Zeitung Libération einzige Politiker, der wirklich von Europa und nicht von lokalen Streitigkeiten spricht, die alte koffeinfreie Utopie zu neuem Leben.

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