Demokratiedefizit, kleiner als gedacht

Europa kostet viel Geld, schafft eine endlose Zahl an unsinnigen Regeln, ist undemokratisch, erweitert sich ständig... Die EU kritisieren ist einfach, nicht nur für gestandene Euroskeptiker. Eine niederländische Zeitung sortiert, was an den 10 „Mythen“ gerechtfertigt ist und was nicht. Nummer 1: Das Demokratiedefizit.

Veröffentlicht am 23 Juli 2012 um 11:17

Das berühmte demokratische Defizit Europas. Ein schwaches Europäisches Parlament, ein Ministerrat, dem es an Transparenz und Rechenschaftspflicht mangelt, ernannte EU-Kommissare, die nie nach Hause geschickt werden, selbst wenn sie versagen. Für die Europhoben sind das Argumente gegen die Union; für die Europhilen Gründe, um erst recht für mehr Integration zu plädieren. Doch gibt es überhaupt ein Demokratiedefizit? Wenn ja, wie groß oder schlimm ist es?

Kurz gesagt: Die europäische Demokratie ist eine indirekte Demokratie. Nicht so wie früher, sondern „anders“. Aber nicht unbedingt schlechter oder undemokratischer. „Die EU als Ganzes ist natürlich kein Staat mit einem Parlament, welches die Regierung kontrolliert. Es ist ein Zusammenspiel von 27 nationalen Demokratien mit einem Stück europäischer Demokratie“. Mit diesen Worten beginnt Luuk Middelaar, Kabinettsmitglied von EU-Präsident Herman Van Rompuy, sein Buch „Der Weg nach Europa“.

Vieles von der Kritik rührt daher. Obwohl das Europäische Parlament stets mehr Macht bekommt und über fast alle Gesetze entscheidet, funktioniert es nicht wie ein nationales Parlament, dass einzelne Minister nach Hause schicken kann. Ebenso wenig wie die EU-Kommission eine Regierung ist, sondern eine apolitische Versammlung von Technokraten, angeführt von ernannten Kommissaren. Aber, so fragen die Experten, würde man es denn anders wollen? Wir wollen doch keine europäische Regierung, oder? Nein. Eben.

Das Ergebnis ist, dass alles indirekt geregelt ist. Der Ministerrat, wo die wichtigen Entscheidungen getroffen werden, unterliegt der Verantwortung der nationalen Parlamente. Es gibt keine direkte Vertretung Europas, aber es gibt nationale Kontrolle. Und die ist, zumindest in der Theorie, fest verankert.

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Natürlich gibt es auch hier Einwände. Die Tatsache, dass das gewählte EU-Parlament sich mit einem Rat von Ministern aus 27 Länder absprechen muss, führt dazu, dass für den Entscheidungsprozess viele Schritte benötigt werden. „Es ist nicht so, dass Entscheidungen getroffen werden, sie geschehen einfach“, sagt Sebastiaan Princen, Dozent an der Utrechter School of Governance. Das macht Kontrolle schwieriger. Der Einfluss der Wähler wird dadurch arg beschränkt. Es gibt kaum noch einen Zusammenhang zwischen dem Ausgang von nationalen Wahlen und den Beschlüssen aus Brüssel: Den gibt es vielleicht jetzt, nun da Europa überall Wahlkampfthema ist.

Aber das sind nicht mehr die alten Einwände, die zum Mythos des „demokratischen Defizits“ beigetragen haben. Diese begründeten sich auf dem Mangel an Transparenz und eines schwachen Europäischen Parlaments. Einwände, die weitgehend ausgeräumt worden sind. „Das echte demokratische Defizit liegt heute bei den nationalen Parlamenten“, sagt der Professor für Politologie Rinus van Schindelen. „Sie sind der Europäisierung nicht nachgekommen“. Mit einem Wort: Das demokratische Defizit ist viel kleiner, als oft behauptet wird, vor allem, würden die nationalen Parlamente ihre kontrollierende Funktion besser ausfüllen.

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