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Tor zu Europa. Das Eurostar-Terminal in der St. Pancras station, London

Sind wir die nächsten „neuen“ Europäer?

Seit der vergangenen Woche stellt sich mir die Frage, ob ich nicht ein wenig zu pessimistisch war und die Euroskepsis und sogar die Europhobie der britischen Jugend überschätzt habe, fragt sich Mary Dejevsky.

Veröffentlicht am 30 April 2010 um 14:52
Tor zu Europa. Das Eurostar-Terminal in der St. Pancras station, London

Den Ausdruck des ‚neuen Europas‘ dachte sich Donald Rumsfeld für die Länder aus, die der Bush-Regierung bei ihren Kriegsanstrengungen halfen. Die „alten Europäer“, den dies nicht gefiel, verachteten diesen Begriff. Schließlich suggerierte dieser, dass in Europa hinsichtlich des Irak-Krieges noch mehr Uneinigkeit herrsche, als das wirklich der Fall war. Auch wenn niemand leugnen konnte, dass ein Fünkchen Wahrheit darin enthalten war.

Das war damals. Nun arbeiten Polen und Russland wieder zusammen und Ost- und Zentraleuropa haben die Lust verloren, die Kriege der USA auszutragen. Zudem scheint sich die Obama-Regierung insgesamt vor der Idee exklusiver Beziehungen zu scheuen. Es könnte also sein, dass die Zeit gekommen ist, dieses lästige Konzept zur letzten Ruhe zu bitten. Sechs Jahre nachdem die Europäische Union ihre größte Erweiterung vollführt hat, sind die Zerwürfnisse weder so beißend noch so erbittert wie sie es einst waren.

Und wenn das „neue“ Europa nun sogar mit dem alten harmonieren kann, ist es dann nicht auch möglich, dass eine neue Sorte ziemlich andersartiger „neuer“ Europäer an den unwahrscheinlichsten Orten erwacht? Hier in Großbritannien beispielsweise? Natürlich gibt es gute Gründe, daran zu zweifeln. Aber ganz plötzlich gibt es – für uns pro-europäische Dinosaurier – auch Grund zur Hoffnung.

Vor nicht allzu langer Zeit bedauerte ich noch, dass sich die Außenpolitiksinteressen der Briten noch immer an ihren Alters- und Generationserfahrungen orientierten. Da waren diejenigen, die die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wachhielten und Faschismus in seinen verschiedenen Gestalten als größte Bedrohung ansahen. Sie wuchsen im dunkelsten Schatten dieses Krieges auf, wurden zu tapferen Kämpfern des Kalten Krieges, schielten über den Atlantik und klammerten all ihre Hoffnungen an die schützende Zuflucht der NATO. Dann kamen diejenigen, die man vielleicht die ersten Europäer nennen könnte. Vor ihnen – also uns – rollte mindestens der halbe Kontinent einen Teppich der Freiheit aus, auf dem wir unsere abenteuerlichen Reisen unternahmen, und die sich nach und nach unsichtbar werdenden Grenzen überschritten.

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Der schlimmste Fehler meiner – europäischen – Generation: Wir haben es nicht geschafft, diejenigen, die nach uns kamen, wirklich zu begeistern. Selbstverständlich freute man sich über den Fall der Berliner Mauer und darüber, dass die beiden Hälften nun wieder vereint seien. Zudem gab es nun Billigflüge, die alkoholisierte Urlaube auf Ibiza und Kreta zu Initiationsriten machten und haufenweise zwanzigjähriger ihre Junggesellenabschiede in Tallinn feiern ließen.

Jedoch schien es so, als ließen sich diese Vergnügungen nicht von einer gewissen Gleichgültigkeit, Misstrauen und sogar Fremdenfeindlichkeit trennen, die man Europa und der EU entgegenbrachte. Diese Generation schien sich nicht dessen bewusst zu sein, dass sie solche Erfahrungen nicht so einfach sammeln könnte, wenn es da nicht diejenigen gegeben hätte, die den Krieg vom europäischen Kontinent verbannen wollten, und die Institutionen schufen, um genau dies geschehen zu machen.

Bis vor kurzem nahm man allerorts an, dass David Cameron mit seiner Euroskepsis die Wahlen gewinnen könne. Schließlich treffe er damit den Nerv der britischen Wählerschaft. Die herkömmliche kompromisslose pro-europäische Einstellung der Liberaldemokraten hielt man für ein Handicap der Partei und Nick Cleggs.

Man machte sogar – und dies nicht ohne einen Hauch von Ernsthaftigkeit – Witze darüber, dass Cleggs Sprachtalent (er beherrscht mehrere Sprachen), sein jahrelanger Aufenthalt in Brüssel, sein ein wenig kontinentaler Stil, seine niederländische Mutter und sein zur Hälfte russischer Vater, seine spanische Ehefrau und die spanischen Namen seiner Kinder vom engstirnigen britischen Wähler als Nachteile angesehen werden könnten. Jetzt wird man abwarten müssen, wie er sich am heutigen Abend schlagen wird. Mein Gefühl sagt mir, dass Cleggs entspannter und neutraler Stil das widerspiegelt, was den Briten – oder zumindest den städtischen Briten – ausmacht. Dieser ist im Laufe der letzten zwanzig Jahre viel ungezwungener und internationaler geworden und gibt sich neuerdings sogar als Europäer zu erkennen.

Zuerst einmal widersetzte man sich dem Irak-Krieg. Letztendlich spiegelte dieser ja die Prioritäten der USA wieder, und nicht die nationalen Interessen der europäischen Länder, deren Staats- und Regierungschefs man um Unterstützung bat. Frankreich und Deutschland sagten nein. Auch viele Briten sagten nein, aber sie wurden von einer Regierung und Opposition beiseitegeschoben, die sich den USA anschlossen.

Anschließend ging es um den „Sozialstaat“ und seine Vorliebe für Kündigungsschutz, verkürzte Arbeitszeiten und mehr Gleichheit. Mehr als das, was die letzten britischen Regierungen glaubten, in unserem Interesse geschehen machen zu müssen. Und kürzlich nahm die britische Öffentlichkeit – als überall diskutiert wurde, wie man die Banken noch mehr regulieren könne –, eine noch strengere Haltung ein als die Regierung und die Opposition. Mit anderen Worten: Eine kontinentale Sichtweise, in der das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes nicht das einzige ist, was den Erfolg ausmacht.

Der die letzten zwanzig Jahre andauernde Flirt mit dem amerikanischen ‚way‘ hat bei den Briten einen so bitteren Nachgeschmack hinterlassen, dass sich unsere sozialen und wirtschaftlichen Standpunkte nun vielleicht in eine europäischere Richtung entwickeln. Und vielleicht verändert sich sogar die Politik. Interessanterweise spricht das kürzlich von der Regierung veröffentlichte Grünbuch zur Verteidigung aus ziemlich heiterem Himmel von engeren Beziehungen zu Frankreich.

Wenn sich also herausstellt, dass Euroskepsis nicht mehr ganz so erfolgssichernd wirkt wie einst, dann kann meine Generation sich vielleicht einbilden, einen kleinen Teil dazu beigetragen zu haben. Letzten Endes werden wir es wohl doch geschafft haben, aus unseren Inselbewohnern Europäer zu machen.

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