Photo: Peter Panter

Die Auferstehung Metternichs

Der Urheber der Idee vom "Konzert der Großmächte" und Gründungsvater der Realpolitik, Fürst von Metternich, ist als ferner Inspirator des Vertrags von Lissabon anerkannt. Laut Lidové Noviny bleibt die Tragweite seines politischen Denkens dennoch unterschätzt.

Veröffentlicht am 11 Juni 2009 um 15:07
Photo: Peter Panter

Sie befürchten, dass die Ratifizierung des Lissabonner Vertrages dazu führt, dass die großen Nationen sich verstehen und die Interessen der kleinen vollkommen in den Wind schlagen? Dass Europa von ihrem Taktstock geleitet nur noch ein Großmachtskonzert sein wird? Wir erinnern uns heute an den Mann, der die Stärken und Schwächen einer solchen Politik aufgezeigt hat: Fürst von Metternich. Es ist schon verwunderlich, dass wir kein Metternich-Jahr feiern, obwohl 2009 beispielsweise zum Darwin-Jahr erklärt wurde. Darwin ehren wir aus zwei Gründen: Zum einen ist er 1809 geboren, zum anderen wurde sein Meisterwerk, Die Entstehung der Arten, 1859 veröffentlicht. Diese beiden Jahre stehen aber auch symbolisch für Metternich: 1809 wurde er österreichischer Außenminister (und somit Chef der Exekutive, sowie anschließend Staatskanzler), am 11. Juni 1859 starb er und ruht seither im Familiengrab in Plasy in Westböhmen.

In unserer Erinnerung lebt Fürst Metternich als Vater des post-napoleonischen Europas des Wiener Kongresses, aber auch als derjenige, der die Idee eines "Konzertes der Großmächte" ins Leben rief, sowie als Gründer der Realpolitik, die das Gleichgewicht der Interessen und die Stabilität der Macht der Moral überordnet. Selbst wenn es stimmt, dass die modernen Europäer sich, sobald sie den Begriff 'Realpolitik' hören, die Nase zuhalten und die Ohren verschließen, so kann doch niemand leugnen, dass das Europa Metternichs von den napoleonischen Kriegen bis zum Ersten Weltkrieg, also nahezu 100 Jahre funktioniert hat. Auch wenn sein Autor seit 150 Jahren tot ist, so hat das politische Denken Metternichs dennoch bis heute überlebt und steht sogar oft an der Spitze.

Als der ehemaliger Premierminister Mirek Topolánek im September letzten Jahres die Kampagne der tschechischen Ratspräsidentschaft begann, äußerte er insbesondere die folgenden Worte: "In varietate concordia – In Vielfalt geeint. Dies ist nicht nur das Motto der Europäischen Union, sondern auch meine Vorstellung davon, wie die Tschechische Republik in Europa handeln sollte. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben eine ganz ähnliche Devise: E pluribus unum – Aus Vielen Eines". Diese Devise ist de facto auch diejenige Metternichs, der sich für supranationales Gleichgewicht und Stabilität aussprach und jegliche Aufteilungs- oder Zerstückelungsabsichten ablehnte. Warum sollten wir uns vor dieser Idee also nicht verneigen und ihren Autor beim Namen nennen? 150 Jahre nach seinem Tod symbolisiert Metternich noch immer reaktionäres Denken und Feindlichkeit gegenüber jedem Fortschritt.

Natürlich ist es richtig, dass Metternich Veränderungen verabscheute und Revolutionäre und Liberale ihn schaudern ließen. Doch darf man hinter dieser Haltung dennoch kein bedingungsloses Festhalten an allem Vergangenem vermuten. Metternich hatte ganz einfach Angst – und die Geschichte gibt ihm diesbezüglich Recht –, dass der Modernismus noch von ganz anderen 'ismen' begleitet wird, dem Nationalismus, dem Sozialismus…

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Das metternichsche Gesicht Europas hat sich ein halbes Jahrhundert gehalten, bevor es von den Nationalismen niedergerissen wurde, die mit verschiedenen Kriegen das Licht der Welt erblickten: Krimkrieg, Preußisch-Österreichischer Krieg, Preußisch- Französischer Krieg. Der Erste Weltkrieg hat es endgültig zum Ende gebracht. Wenn wir bedenken, dass Metternich das Gesicht des Alten Kontinentes über vier Generationen hinweg geprägt hat, während sich das Versailler System nur eine Generation lang gehalten hat, so ist das doch alles in allem kein schlechtes Ergebnis.

Die Gegner des Vertrages von Lissabon können sich als Inkarnationen der Gegner der Epoche Metternichs und des Prinzips "die Schwächeren niederreißen" betrachten. Letztendlich ist es doch vor allem wichtig, zu wissen, wie unsere gegenwärtige Situation 2050 bewertet werden wird. Anders gesagt, wenn wir über genügend Abstand verfügen, um darüber zu urteilen, ob in der Realpolitik mehr Vorteile oder Nachteile liegen.

GESCHICHTE

Metternich, der ewig Verkannte

Fürst Metternich, Sohn des Ancien Régime hasste Revolutionen jeder Form. "Und doch hatte Europa ihm mehr zu verdanken als allen Revolutionären der Epoche, von Rousseau über Robespierre und Fouchet bis zu Napoleon", erinnert Die Welt. Das Berliner Blatt erklärt, warum der 1773 in Koblenz geborene und heute vor 150 Jahren verstorbene Außenminister und Kanzler des Kaisertums Österreich besser war als sein Ruf: Er war es, der das anti-napoleonische Bündnis austüftelte und1814 zum Wiener Kongress rief, der Europa Jahrzehnte des Friedens brachte, indem er das Kräftegleichgewicht der damaligen Großmächte durchsetzte. Das "System Metternich", schreibt Die Welt, funktionierte "allemal besser als (alles) vorher". Jedoch "im März 1848 ging seine Welt unter, und er wusste es. Zwar hatte er merkwürdigerweise nicht begriffen, dass ein inflationär steigender Brotpreis (…) die Gebrechen und Anachronismen des Kaiserstaats aufreißen würde. Aber als der Kaiser ihn entließ, da ging er klaglos ins Exil." Metternichs Bild in der Geschichte, schließt die Zeitung, "umstritten, bis heute".

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