Tirana nach der EU-Entscheidung der Visafreiheit für Albaner. 8. November 2010.

„Lasst uns rein, ihr Dreckskerle!“

Von allen Ländern, die sich der EU anschließen wollen, scheint das ‚Land der Adler‘ am höchsten motiviert zu sein. Doch die Chancen auf den Kandidatenstatus stehen derzeit denkbar schlecht. Zu viele Dinge müssen verbessert werden. Eine Reportage von der griechischen Grenze, wo der Migrationsstrom von den unvorhersehbaren wirtschaftlichen Entwicklungen bestimmt wird.

Veröffentlicht am 15 August 2012 um 12:09
Tirana nach der EU-Entscheidung der Visafreiheit für Albaner. 8. November 2010.

Das Dorf besteht aus einigen Dutzend Häusern, die malerisch auf grünen Hügeln verstreut liegen. In fast allen kann man für ein paar Euro übernachten. Man kann auch in jedem von ihnen danach fragen, über die Grenze gebracht zu werden. Die Luftlinie von Konispol nach Griechenland beträgt weniger als zwei Kilometer.

Um nach Konispol zu gelangen, muss man aber schon einige Mühen auf sich nehmen. Die Albaner kämpfen darum, dass sie von der Europäischen Union offiziell als Kandidat für die Mitgliedschaft anerkannt werden. Eine der Bedingungen für die Aufnahme Albaniens ist die Sicherung seiner Grenzen, die als Achillesferse der gesamten Region angesehen werden. Daher beginnen die Polizei- und Grenzkontrollen schon ein Dutzend Kilometer, bevor man das Dorf erreicht.

Die Polizei der Bezirkshauptstadt Gjirokaster hat auch bemerkt, dass die Griechen seit kurzem weniger fleißig gegen illegale Einwanderer vorgehen. „In letzter Zeit ist der Druck von ihrer Seite erheblich zurückgegangen“, bestätigt ein Ortspolizist, der namentlich nicht genant werden möchte. „Ich weiß nicht, ob es eine Strategie oder nur allgemeine Nachlässigkeit ist. Doch seit den Wahlen [im Mai] gewinnt man den Eindruck, als hätten sie völlig aufgehört, die Grenze zu sichern.”

Lokaler Klüngel

Albaniens Wunsch nach vollwertigen Verhandlungen zur Mitgliedschaft mit der Europäischen Union sind zum politischen Hauptgesprächsthema geworden. Im November soll Brüssel sich dazu äußern, ob das Land für eine Kandidatur reif ist.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

„Unsere Chancen stehen schlecht“, sagt der Reporter der Zeitung Shqip, Gjergj Erebara stirnrunzelnd. „Die regierende Albanische Demokratische Partei hat die EU in ein Scheinziel verwandelt, das verfolgt, aber nicht erreicht werden soll, denn dann müsste der Korruption ein Ende gesetzt werden, und viele lokale Arrangements würden zerplatzen. Im November wird es zu keinem Ergebnis kommen.”

Edi Rama, Chef der Albanischen Sozialistischen Partei, die die stärkste Kraft der Opposition stellt, ist ehemaliger Bürgermeister von Tirana und gern dazu bereit, die Regierungspartei zu verreißen: „Die gesamte EU hat gesehen, wie Ministerpräsident Sali Berisha eine Wahl nach der anderen manipuliert hat. Erst die Parlamentswahlen, dann die Wahlen der Regionalregierungen“, sagt er.

Die Sozialisten haben nie aufgehört, Machenschaften von Berishas Partei für ihre Niederlage bei den Parlamentswahlen 2009 verantwortlich zu machen. Sie boykottierten das Parlament monatelang. Als Oppositionsparteien im Januar 2011 Demonstrationen gegen die Regierung anführten, schossen Sicherheitskräfte in die Menge. Dabei wurden drei Demonstranten getötet und ein vierter schwer verletzt.

„Bis heute hat sich dazu noch niemand geäußert. Wie kann ein Land, in dem derartige Dinge geschehen, überhaupt daran denken, in die EU aufgenommen zu werden?” fragt sich Rama. Erebara gibt zu, dass Berisha ein gewiefter Politiker ist. „Und er ist sehr geschickt darin, die öffentliche Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen abzulenken.”– Wie zum Beispiel, als die Affäre um die Gay Pride hochkochte.

Rechte Homosexueller dominieren EU-Debatte

Edi Marku ist knapp 60 Jahre alt und trägt eine Schirmmütze wie sie Herren in seinem Alter gerne tragen. In seinen Händen hält er ein Plakat, auf dem „Hände weg von meinem Hintern!“ steht. Er ist einer von mehreren Dutzend Menschen, die vor dem Parlamentsgebäude von Tirana gegen die Gay Pride protestieren.

„Du musst wissen, dass ich es großartig fände, wenn Albanien in die EU eintreten würde“, erzählt er mir. „Die EU wird uns helfen, Straßen zu bauen, uns finanziell unterstützen, und unsere Jugend könnte im Ausland studieren – Ich habe zwei Töchter, die studieren. Aber wenn der Preis dafür ist, Entartungen zu akzeptieren, dann müssen wir es uns zwei mal überlegen.”

Sexuelle Minderheiten haben in Albanien schon einmal im Jahr 2009 für Aufruhr gesorgt. Damals schlug Berisha nicht nur über seine eigene Wählerschaft hinaus, sondern war auch den meisten Ländern der EU weit voraus, als er verkündete, homosexuelle Ehen zu unterstützen, anstelle sich über die ersten Anzeichen von Wut über die Wahlen zu kümmern. Das albanische Volk kochte über, aber da Berisha Chef der konservativen Partei ist, die darüber hinaus noch mit muslimischen Organisationen sympathisiert, gab es niemanden, der ihm etwas entgegensetzte.

Als zu Beginn des Jahres die Pink Embassy Association verkündete, die erste Schwulenparade in Tirana organisieren zu wollen, wartete jeder darauf, was der Ministerpräsident wohl dazu sagen würde.

„Alle Journalisten, wie Journalisten eben so sind, fingen an, nach jemandem zu suchen, der dagegen war“, erzählt Erebara. „Schließlich fanden sie jemanden – den stellvertretenden Verteidigungsminister. Der hatte gesagt, dass man allen Homosexuellen einen Tritt in den Hintern verpassen sollte. Die USA und die EU antworten darauf, indem sie Albanien daran erinnern, homosexuelle Rechte zu respektieren, und die Debatte wurde plötzlich zu einer über Homosexualität anstelle über Mitgliedschaft in der EU.

Dann stellt er die rhetorische Frage: „Haben wir denn wirklich keine wichtigeren Probleme?“, und zählt selbst die Probleme auf: „Arbeitslosenrate von bis zu 15 Prozent und für die jungen, gut ausgebildeten Leute gibt es keine andere Perspektive als nach Italien zu gehen. „Am Ende entschloss sich die Pink Embassy dazu, die Parade zu verschieben, weil sie Angst um die Sicherheit der Teilnehmer hatte.“

97-98 Prozent EU-Befürworter

Tatsächlich ist Albaniens Begeisterung für die EU einzigartig. In der Türkei erreichen die Befürworter für den Eintritt in die EU knappe 50 Prozent. In Serbien ging die Begeisterung rapide zurück, nachdem es sich den Status eines Kandidatenlandes damit erkaufte, Kriegsverbrecher wie Milosevic, Karadzic und Mladic an das Tribunal in Den Haag auszuliefern.

Selbst das nächste EU-Mitglied Kroatien ist weitaus euroskeptischer als Albanien. „Die Befürworter der EU haben sich jahrelang bei 97-98 Prozent gehalten,” sagt Erebara. „Kein einziges Land der Europäischen Gemeinschaft hatte je derartige Ergebnisse. Bei uns sind im Gegensatz zur Türkei zum Beispiel selbst die hartgesottenen Muslime eurobegeistert.”

Doch was soll aus all dem Enthusiasmus werden, wenn Albanien die Verhandlungen nicht vorwärts bringt? „Sie hoffen darauf, sich in die EU einschleichen zu können“, erklärt ein Diplomat der EU. „Sie sind auch in die NATO gekommen, ohne die Voraussetzungen zu erfüllen. Der Verbund hielt Albaniens strategische Position für wichtig genug, um ein Auge zuzudrücken. Doch ich glaube nicht, dass sie es diesmal wieder hinkriegen.

Albanien ist zu weit von den geforderten Standards der EU entfernt und Europa wird – nach der Griechenland-Krise – was diese Dinge angeht, immer prinzipientreuer. Die EU kommt Albanien zwar entgegen – zum Beispiel dürfen sich Albaner ohne Visa im Schengen-Raum bewegen und Albanien hat ein sehr gutes Handelsabkommen. Doch solange die Regierung nicht aktiv beginnt, das Land zu verändern, braucht man über Verhandlungen gar nicht erst sprechen.”

Die Rettung der Griechen

In Konispol gibt es nach acht Uhr abends kein Leben mehr auf der Straße. Diejenigen, die auswandern wollen, gehen vorher schon ins Bett, denn die meisten stehen um 4 Uhr auf, essen das typische B&B Frühstück der Region mit gekochten Eiern, Tomate, Marmeladenbrötchen, trinken Kaffee und machen sich auf den Weg, damit sie Igoumenitsa abends erreichen.

Diejenigen, die so früh nicht einschlafen können, sitzen im zentral gelegenen Café. Der 17-jährige Izeti Guri, der jeden Tag die Grenze überquert, um Boote in einem nahe gelegenen Hafen in Griechenland zu bemalen, erzählt mir auf Englisch, was er über die anderen hier sitzenden Landesgenossen in Erfahrung bringen konnte.

„Dieser Mann hat einen Bruder in Griechenland. Sie haben gemeinsam eine Büroreinigungsfirma,“ erzählt er, während er auf einen Mann mittleren Alters mit Schnauzer zeigt. „Dieser hier hat eine griechische Freundin und gibt vor jedem damit an, dass er sie heiraten wird und einen EU-Pass bekommt.“

Der Mann, Jovan, erzählt, dass sich die Einstellung der Griechen gegenüber Albanern im Laufe der Krise von Verachtung zu Respekt gewandelt hat: „Noch vor einem Jahr hatten die Eltern meiner Freundin ein Problem damit, dass sie einen albanischen Freund hat. Sie wollten mich nicht kennenlernen. Jetzt haben sie mich zum Essen eingeladen und fragen mich, ob sie mir in irgendeiner Weise behilflich sein können.”

„Woher kommt dieser Sinneswandel?”

„Sie haben verstanden, dass sie es ohne unsere Manpower nicht schaffen können.”

„Nur wir können Griechenland jetzt noch retten“, sagt jemand ernst und die anderen nicken.

„Siehst du? Die Zukunft der gesamten EU liegt in unserer Hand. Aber ihr Dreckskerle lasst uns nicht rein“, lacht der 17-jährige Izeti. (sd)

Dieser Artikel wurde im Rahmen des EU-kofinanzierten Projekts Next in Line produziert.

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema