2014 soll europäisch gewählt werden

Den gemeinsamen politischen Raums in Europa gibt es. Die politische Union nicht. Sie sollte zum Wahlkampfthema der europäischen Parlamentswahlen 2014 werden, um die Bürger für ein großes Projekt zu mobilisieren, schreibt der italienische Rechtsprofessor Andrea Manzella

Veröffentlicht am 17 August 2012 um 10:24

Wie können wir uns auf die europäischen Parlamentswahlen im Jahr 2014 vorbereiten? Welche Aussichten bieten sich dem Volk der Wähler, das unter demselben Druck vereint wurde, der auch auf dem täglichen „Handwerk des Lebens“ [Tagebuch von Cesare Pavese 1935 bis 1950] lastet?

„Schwarze Schlagzeilen wie Gewitter“: Die große Krise erinnert daran, wie Cesare Pavese in anderen ebenfalls von Angst geprägten Zeiten die Printmedien beschrieb. Damals schimmerte am Ende des dunklen europäischen Tunnels die Hoffnung auf Frieden.

Heute ist es die Hoffnung auf etwas, das näher scheint und sich doch jeden Tag als flüchtiger und abstrakter erweist, etwas, das sich „politische Einheit“ nennt. Regierende, Ökonomen und Juristen fordern sie. Intellektuelle pochen immer eindringlicher darauf. Aber niemand unternimmt etwas, das erklärtermaßen diesem Zweck dient. Die Tabus, derentwegen Wörter wie Verfassung, Föderation und (sogar) Gesetz aus den Verträgen gestrichen wurden, dominieren weiterhin.

Arena eines neuen Ius Publicum Europaeum

Dabei wissen alle, dass sich das Szenario geändert hat. Es hat sich ein „europäischer öffentlicher Raum“ gebildet. Aber es ist nicht der Raum der Kohäsion und der gemeinsamen öffentlichen Meinung, der von den Verfechtern der Föderation als Wächter der großen Tradition angestrebt wird. Es ist ein negativ konnotierter Raum, in dem Verpflichtungen und Abgaben immer den „anderen“ nutzen: den Ärmsten oder den Reichsten, je nachdem, ob man sich im Süden oder im Norden befindet.

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Es ist die Arena eines neuen Ius Publicum Europaeum [europäischen öffentlichen Rechts], in der Rechte nur das fahle Spiegelbild der Macht sind. So wundert es wohl nicht, dass der politische Wohlstand derjenigen, die sich gegen Europa und seine Institutionen stellen – nicht, weil sie schlecht vor der Krise schützen, sondern weil sie zur Krise geführt haben –, in diesem Raum zunimmt

Heute entdecken wir, dass die Entbehrungen und die weit über jegliche Notwendigkeit hinausgehenden Haushaltskürzungen den Weg für politische Bewegungen geebnet haben, die im Kampf gegen „diese“ Union auch an deren konstitutionellen Grundmauern nagen. Ungarn und Rumänien sind nur zwei Beispiele. Der Fraß der populistischen europafeindlichen Bewegungen zeigt sich überall, von Deutschland bis nach Italien. Ein demokratisches Defizit.

Warnung an deutsche Richter

Diese Gefahr, die die Demokratie läuft, sollte den deutschen Richtern ein Warnsignal sein. Sie haben die Verantwortung übernommen (mit den schwerwiegenden Folgen, die wir kennen), erst im September über den schon vom Bundestag beschlossenen Beitritt Deutschlands zum Europäischen Stabilitätsmechanismus zu entscheiden.

Diesmal zeigen sich die Parlamente vernünftig. Sie verstehen, dass sie den „Ausnahmezustand“ (im Bundestag wie im italienischen Parlament) legitimieren müssen. Nicht nur wegen des Drucks der Märkte, sondern weil sie in den letzten Schritten der Union ein neues Tempo erkennen. Sie verstehen, dass ein neuer Prozess begonnen hat, der nicht nur auf Regeln und deren Einhaltung abzielt, sondern auf die Kraft der Verzahnung der Institutionen zählt.

Natürlich ist das ein Prozess voller Hindernisse, Seitenbewegungen und Widerstände, der bis vor Kurzem noch undenkbar war. So ist die Beeinflussung der Haushaltsbefugnis (das Königsrecht jedes Parlaments) durch das „europäische Semester“ den Ausgangspunkt für eine Haushaltsunion bildet.

Die Zusammenarbeit der Parlamente, ein Parlamentarismus der Union, löst die Konfrontation zwischen Europäischem Parlament und nationalen Parlamenten ab und begründet eine Zusammenarbeit in nach Bereichen gegliederten „Versammlungen“. Der Verzicht auf die einstimmige Abstimmung über neue gemeinsame Regeln ermöglicht, dass sie in Kraft treten, wenn die Mehrheit der Mitgliedstaaten sich dafür ausspricht.

2014, Jahr des Euronationalismus

Aber das alles wird erst sinnvoll, wenn es den Wähler 2014 überzeugend nahegebracht wird, d. h. dass sie für ein anderes Europa stimmen, das der Krise nicht nur mit Regeln, sondern mit institutionellen Mechanismen begegnen kann: dem Euronationalismus.

In einem so bleiernen Klima haben wir keine Zeit und vielleicht auch keinen Raum für eine tiefgreifende konstitutionelle Transformation, die eine Änderung der Verträge voraussetzen würde. Aber wir haben ausreichend Zeit, um einige wesentliche Schritte zu unternehmen.

Die Staaten könnten, ohne die Verträge zu ändern, ein „einheitliches Wahlverfahren“ einführen, das den großen europäischen Parteien ermöglicht, Kandidaten auszutauschen und Spitzenkandidaten in mehreren Ländern aufzustellen. Dies würde einem Raum Sinn verleihen, der nicht von Ängsten, sondern von länderübergreifenden politischen Hoffnungen geprägt wird.

Mit einer gemeinsamen Erklärung vor den Wahlen könnten die Staaten den Präsidenten der Kommission, der von der Mehrheit des europäischen Parlaments gewählt wird, auch zum Präsidenten des Europäischen Rats ernennen. Die Zusammenlegung dieser Ämter wäre ebenfalls ohne jegliche Änderung der Verträge durchführbar.

Institutionelle Solidaritätskette

Die Staaten könnten die (nicht konstitutionellen) Regeln abändern, die der heute unüberschaubaren Verteilung der Mittel aus dem Europäischen Kohäsionsfonds zugrunde liegen und zu Verzettelung und Verschwendung führen. Sie könnten die Verwaltung des Fonds unter der strengen Kontrolle zentralisieren, der auch die Haushalte der Mitgliedstaaten unterliegen, und sie für die gemeinsame Wirtschaftspolitik einsetzen.

Das europäische Parlament und die nationalen Parlamente könnten zusammen erklären, dass sie die Arbeit in euronationalen Versammlungen und Konventen über die großen Fragen der Union akzeptieren: So machen sie den Wählern verständlich, dass Richtlinien, Kontrollen und Untersuchungen einer Volksvertretung nur dann Sinn haben, wenn sie die gegenseitige Abhängigkeit der Probleme berücksichtigen. Und dass die Kooperation zwischen den Parlamenten, die bereits in den Verträgen vorgesehen ist, in unserer Zeit die einzige Form des Parlamentarismus darstellt.

Vor dem Hintergrund dieser institutionellen Solidaritätskette könnte die so oft bemühte „politische Union“ 2014, hundert Jahre nach dem Ausbruch der ersten europäischen Tragödie, erstmals konkrete Züge annehmen. Und die Wähler könnten endlich verstehen, dass die Europäischen Parlamentswahlen wesentliche politische Wahlen sind, die zählen. Denn eine niedrige Wahlbeteiligung wäre wohl die schlimmste aller Krisen.

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