Schloss von Massa di Carrara, von Leo von Klenze (1827). The J. Paul Getty Museum

Europa, meine Liebe

Der moldawische Schriftsteller Vitalie Ciobanu erweckt die Idylle zwischen seiner Großmutter und einem italienischen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs wieder zum Leben. In ihrer Liebe sieht er eine Metapher für die Beziehungen zwischen Moldawien und Europa.

Veröffentlicht am 12 Juni 2009 um 06:24
Schloss von Massa di Carrara, von Leo von Klenze (1827). The J. Paul Getty Museum

Eine der Geschichten meiner Familie, die mich immer fasziniert hat, handelt von einem italienischen Soldatenregiment, das zum deutschen Vormarsch gen Osten gehörte und im Sommer 1942 durch meine Geburtsstadt Floresti kam. Was über diese Zeit erzählt wird, ist das genaue Gegenteil des typischen Kriegsbildes, das ich aus den sowjetischen Filmen meiner Kindheitstage kannte. Das Verhalten der Dorfbewohner den Soldaten gegenüber war gleichmütig und abwartend. Wie ins Halbdunkel eines in Finsternis getauchten Saales hingekauert, erweckte die weltgeschichtliche Szene, die sich vor ihren Augen abspielte, in der Seele dieser Leute Angst vor dem Unbekannten, aber auch und vor allem Neugierde.

Diese Art von Neugier war seit jeher zwischen meinen Großeltern ein heikles Gesprächsthema. Es gab dort eine Spannung, an der ich nicht teilhaben konnte, und deren Ursprung ich erst sehr viel später erfuhr. Die Einquartierung der Italiener in Floresti hatte keine so großen Ausmaße wie in dem 2001 gedrehten Film Corellis Mandoline nach dem gleichnamigen Roman von Louis de Bernières. Das Dorf meiner Großeltern hatte aber etwas von der Strenge der ionischen Insel Kephallonia, die im Film von italienischen Truppen besetzt wird. Meine Großmutter Ioana, die Grundschullehrerin im Dorf war, verliebte sich in einen jungen Leutnant namens Vincenzo aus Massa Carrara, der Stadt der berühmten Marmorsteinbrüche.

Ihre Romanze hat Spuren hinterlassen. Sieben Briefe des Soldaten, die er ihr nach dem Abzug der Italiener schickte. Großmutter wurde‚ die 'Italienerin' genannt. Der Soldat hatte einige rumänische Wörter gelernt, mit welchen er seine Schreiben abschloss.

Vincenzos Briefe haben mich auf die Idee gebracht, einen Roman zu schreiben. Seitdem sammle ich Material. Meine Cousins, die seit langem mit Frau und Kindern in Italien wohnen, haben mir dabei geholfen; mit ihrer Hilfe ist es mir gelungen, den Faden dieser Geschichte bis hin zur Stadt von Vincenzo zurück zu verfolgen.

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In den letzten Jahren haben sich die Dinge in Moldawien stark verändert. Auf dem Platz, wo wir sonntags einst spielten oder tanzten, holt man jetzt die Pakete und die paar hundert Euro ab, die von den "draußen" arbeitenden Familienmitgliedern geschickt werden. Wenn man den Andrang auf diese vollgepackten Kleinbusse sieht, versteht man, dass es sich hierbei nicht nur um finanzielle Unterstützung handelt, sondern dass die Bewohner auf diese Art mit dem Pulsschlag der Welt, mit Europa, in Verbindung bleiben. Und sich damit auf gewisse Weise eine Zukunft sichern. Denn sie empfangen nicht nur, sondern verschicken auch Pakete voller Käse und selbstgekochter Marmelade.

Abgesehen vom persönlichen Schicksalsdrama derer, die aus Armutsgründen ihr Haus verlassen, ist die Abwanderung der Moldawier letzten Endes eine verspätete Geste, die Geschichte nachzuholen. Eine Geschichte, die meine Landsleute vor 65 Jahren vor ihrer Haustür in Gestalt wettergebräunter Soldaten mit melodischer Sprache vorfanden. Eine über Generationen geschlagene Brücke und ein militärisches Tintenfass, in das Vincenzo seine Feder tauchte. Europa in einem Tintenfass. Ich frage mich, ob Floreşti auf der Gemütskarte der Italiener eine genauso große Rolle spielt wie Massa Carrara auf der Herzenstopografie meiner Familie. Ich träume davon, in diese Stadt der Marmorsteinmetze zu reisen, um meine Erwartungen zu überprüfen. Und ich hoffe, ich werde das Schloss auf dem Hügel wiedersehen. Es sollte dort noch stehen, majestätisch mit seinen in Licht getauchten Türmen, so wie ich es das erste Mal sah, so wie ich es mir an diesen langen Sommernachmittagen erträumt habe.

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