Plädoyer für ein europäisches Referendum

Die oftmals als unabdingbare Ergänzung zur Währungs- und Fiskalunion genannte politische Union wäre ohne eine damit einhergehende demokratische Absegnung nicht legitim. Deshalb sei eine europaweite Abstimmung notwendig, schreibt ein flämischer Journalist.

Veröffentlicht am 23 August 2012 um 11:18

Europa kämpft mit drei gigantischen Problemen, die man unter den Begriffen Liquidität, Solvenz und Legitimität zusammenfassen kann.

Das Problem der Liquidität hat mit der Art zu tun, wie wir Griechenland, Spanien, Italien, Portugal und Irland über Wasser halten. Wir müssen verhindern, dass diese Staaten bald ihren finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen können.

Das war auch die Botschaft von EZB-Präsident Mario Draghi bei seiner Pressekonferenz Anfang dieses Monats. Er sagte wortreich, dass die EZB über die nötige Schlagkraft verfüge und diese auch nutzen werde. Weiter Hunderte von Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen, um einen Bankrott zu verhindern, war also nicht das Hauptproblem.

Die Problemländer sind derart hoffnungslos verschuldet, dass niemand ihnen Geld zu tragbaren Konditionen leihen will. Die verlorene Solvenz ist das zweite Problem. Das Eurosystem muss 2.500 Milliarden weitere Schulden decken können.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Solange wir dafür keine Lösung finden, ist der Finanzsektor virtuell bankrott. Allein die deutschen Banken haben noch Forderungen von 500 Milliarden Euro in Südeuropa!

Die Franzosen stehen noch schlechter da. Die Forderungen dieser Banken sind oftmals Forderungen an die Sparer ausländischer Banken.

Vertrauen zurück gewinnen

Wie auch immer, die Schuldenkrise wird den europäischen Bürgern noch sehr große Anstrengungen abverlangen. Zunächst, um ausgeglichene Haushalte zu bekommen, denn es macht keinen Sinn, Schuldenabbau zu betreiben, wenn die bestehende riesige Neuverschuldung weitergeht.

Und dann ist der schrittweise Abbau der bestehenden Schuldenlast oberstes Gebot.

Wirtschaftswachstum würde uns bei diesem Kurs helfen, zusammen mit etwas Inflation, aber für Wachstum ist Vertrauen nötig. Vertrauen in die Zukunft, so wie wir das seit Ende des Krieges gemeinsam gehalten haben.

Um das Vertrauen wieder herzustellen und bei den Bürgern die Bereitschaft zu wecken, für weniger Einkommen mehr zu arbeiten, benötigen unsere Politiker Legitimität. Sie benötigen ein demokratisches Mandat, dass wir alle fünf Jahre erneuern können.

Dieses Mandat müssen sie von der gesamten Eurozone bekommen. Die Europäische Union oder zumindest die Eurozone müsste eine politische Union werden. Die Union hätte das letzte Wort bei allen Haushalts- und untergeordneten Steuerfragen.

Innerhalb eines strikten Rahmens hätten die Länder und Regionen weiterhin die Freiheit, Steuern oder Ausgaben zu erhöhen. Das wäre doch mal eine Staatsreform!

In Deutschland verbietet das Grundgesetz ausdrücklich die Übertragung dieser Befugnisse. Mehrere deutsche Politiker haben in den letzten Tagen daher auch für ein Referendum plädiert, wenn auch ohne Begeisterung.

Sie folgen dabei dem mittlerweile 83-jährigen Philosophen Jürgen Habermas, dessen Buch Zur Verfassung Europas“ nun auch in den französischen Buchhandlungen erhältlich ist [La Constitution de L’Europe, Gallimard].

Gefahr einer „postdemokratische Bürokratie“

„Verfassung“ muss man hier sowohl im Sinne von „Aufbau“ als auch „Grundgesetz“ verstehen: Konstituierung und Verfassung.

Wir müssen vermeiden, sagt Habermas, dass sich das europäische Projekt ins Gegenteil umkehrt, nämlich in eine „postdemokratische Bürokratie“, die von den europäischen Völkern eher als erdrückend und feindselig erlebt wird.

Wir müssen aus Europa wieder ein positives Projekt machen. Europa ist für Habermas ein unverzichtbarer Teil in einer Welt, die wir als ethisch bewusste Bürger verbessern müssen.

Wenn wir Europa nicht retten, was bleibt dann noch an kosmopolitischen Träumen, wie beispielsweise den universellen Menschenrechten, übrig?

Dass es in Deutschland zu einem Referendum kommt, scheint sehr wahrscheinlich. Laut Der Spiegel könnte es drei Formen annehmen: eine Änderung des deutschen Grundgesetzes, eine Abstimmung über die jüngsten europäischen Beschlüsse (Fiskalpakt und ESM, den Europäischen Stabilitätsmechanismus) oder ein europaweites Referendum über eine weitreichende Veränderung der Verträge.

Mit anderen Worten, ein Referendum über eine neue demokratische Verfassung für den Kontinent. Wer ist bereit zum Schulterschluss? Lasst uns mit einer Petition beginnen. (JS)

Deutschland

Manifest für eine demokratischere Union

Ein Jahr vor den deutschen Bundestagswahlen greifen drei Intellektuelle zur Feder, um auf Anfrage von SPD-Chef Sigmar Gabriel die Debatte innerhalb der Sozialdemokraten zu nähren.

In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit dem Titel „Einspruch gegen die Fassadendemokratie“ plädieren die Philosophen Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin, sowie der Ökonom Peter Bofinger für die Eiberufung eines Verfassungskonvents in Deutschland und ein Referendum über Europa in den Ländern der Eurozone.

Die Autoren, deren Text in Deutschland heftige Reaktionen hervorgerufen hat, fordern, dass die Staaten mehr Souveränität an die europäischen Institutionen abgeben sollen, damit diese die notwendige Legitimität bekommen, um Haushaltsdisziplin durchzusetzen und ein stabiles Finanzsystem sicherstellen zu können.

Die Rechtfertigung eines großen Integrationsschrittes ergibt sich jedoch nicht nur aus der aktuellen Krise des Euroraums, sondern gleichermaßen aus der Notwendigkeit, das Unwesen des gespenstischen Paralleluniversums, das die Investmentbanken und Hedgefonds neben der realen, Güter und Dienstleistungen produzierenden Wirtschaft aufgebaut haben, durch eine Selbstermächtigung der Politik wieder einzufangen.

Das Ziel ist folgendes: Stärkung einer sozialstaatlichen Bürgerdemokratie, um den eingeschlagenen Weg der „marktkonformen Fassadendemokratie“ zu verlassen. Denn, so schreiben sie:

Das weit verbreitete Gefühl verletzter Gerechtigkeit erklärt sich daraus, dass anonyme Marktprozesse in der Wahrnehmung der Bürger eine unmittelbar politische Dimension angenommen haben. Dieses Gefühl verbindet sich mit der verhaltenen oder offenen Wut über die eigene Ohnmacht. Dem sollte eine auf Selbstermächtigung abzielende Politik entgegentreten.

Die Rückkehr zum Nationalstaat sei keine Option in einer globalisierten Welt, schreiben die Autoren zum Abschluss:

Der Verzicht auf die europäische Einigung wäre auch ein Abschied von der Weltgeschichte

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema