Nachrichten Humor in Europa (7/10)
Jon Gnarr, der Bürgermeister von Reykjavik, bei der Gay Pride Parade 2011.

Die Wikinger-Karikatur hat noch schöne Tage vor sich

Wenn man weit vom Rest der Welt entfernt lebt und von einem Wikinger-Volk abstammt, dessen Kommunikationsfähigkeiten einen zweifelhaften Ruf genießen, muss man sich eine raffinierte Selbstironie aneignen. Im siebten Teil der Serie führt uns Le Monde nach Reykjavik, wo die Parodie immer noch das beste Mittel gegen insularen Narzissmus ist.

Veröffentlicht am 28 August 2012 um 10:29
Jon Gnarr, der Bürgermeister von Reykjavik, bei der Gay Pride Parade 2011.

Die Einwohner der Hauptstadt Reykjavik haben einen Komiker zum Bürgermeister gewählt: Jon Gnarr, dessen Wahlprogramm ankündigte, er wolle „sich eine Festanstellung mit guter Bezahlung“ verschaffen, und „seine Familie davon profitierten lassen“. Er bekam 40 Prozent der Stimmen. Eine Ausnahme? Nein! Ex-Ministerpräsident David Oddson, der als Zentralbankpräsident während des Banken-Crashs 2008 nun wirklich niemanden mehr amüsierte, hatte im Radio als Komiker angefangen. Und der bekannteste Grüne des Landes hatte auf der Bühne Generationen von Menschen zum Lachen gebracht. Der Narzissmus der Menschen dieses kleinen Inselstaats ist so ausgeprägt, dass er ein Gegengift braucht: Selbstironie.

Der Humor gegenüber seinem Nachbar funktioniert nur, wenn Trunkenheit als Ausrede für alle Kühnheit dienen kann.

Über sich selbst lachen ist einfach, doch in einem Land, in dem alle sich mehr oder weniger kennen, sich über andere sich lustig zu machen, ist heikel. Wenn ein Pfarrer oder Politiker einen Fehler macht, am besten sexueller Natur, dann tauchen überall sogleich vierversige Spottgedichte auf; die besten davon aber erst viel später, und die betroffene Person wird niemals namentlich erwähnt.

Die Parodie ist eine weitere Form des Spotts, ohne die Menschen beim Namen zu nennen. Die Feste, welche gut ein Drittel des gesellschaftlichen Lebens der Isländer ausmachen, sind eine gute Gelegenheit, um die Menschen, die man das ganze Jahr sieht, zu karikieren. Aber nur, nachdem man angestoßen hat, versteht sich, denn dieser Humor gegenüber seinem Nachbar funktioniert nur, wenn Trunkenheit als Ausrede für alle Kühnheit dienen kann.

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Humor war offensichtlich nicht gerade eine Stärke der Wikinger. Ihre Aussprüche in den Legenden sind dermaßen lakonisch, dass das schon fast wieder an Schweigen grenzt. Und wenn man heute diese Unerschütterlichkeit verspottet, dann um auf die Schwierigkeiten der Isländer anzuspielen, ihre eigenen Gefühle in Worte zu fassen.

Naive Mädel, die es faustdick hinter den Ohren haben

Lange Zeit war die Naivität und Unwissenheit der Bauern die Grundlage für die isländischen Komiker. Unbeholfene Tölpel führen ihren Hof an den Rand des Abgrunds, und die naiven Mädchen der Fjords zeigen sich frivoler als erwartet: Ein junges Ding will während der Heringfangsaison auf einem Kutter arbeiten. Der Vorarbeiter erklärt, wie die Fische in die Kiste zu legen sind: Kopf an Kopf, Schwanz schön heraus. „Kein Problem, das hab ich schon hundertmal gemacht“, antwortet das kesse Mädel.

Es war Reykjaviks Bürgermeister, der den isländischen Humor erneuerte

Mit der Urbanisierung und dem Vordringen der dänischen und amerikanischen Kultur im 20. Jahrhundert ändern sich die Dinge. Auf Englisch oder Dänisch sprechen gilt als lustig, als Provokation. Nach der Unabhängigkeit Islands steht eine sprachliche und lexikale Säuberung auf der Tagesordnung!

Es war Reykjaviks Bürgermeister, der den isländischen Humor erneuerte, indem er von der Parodie zur satirischen Charakterstudie überging und sich über die Archetypen der isländischen Gesellschaft lustig machte. In einem seiner Sketchs beispielsweise, preist seine populärste Figur, der unerträgliche Mister Besserwisser, gegenüber seiner Frau das Talent eines Schauspielers, den sie beide, behauptet er, am Vortag in einem Film gesehen hätten. Seine Frau weist ihn zwar darauf hin, dass besagter Schauspieler nicht in dem Film mitwirkte, was von einem Freund bestätigt wird, doch nichts kann seine Gewissheit erschüttern. Er ist sich seiner Sache sogar so sicher, dass er am Telefon — in einem Englisch mit brachialem isländischen Akzent — den Schauspieler selbst davon überzeugen will, in dem Film mitgewirkt zu haben.

Zu den bereits erschienenen Teilen der Serie:

Deutsche Satire oder „politische Hygiene“Italienische Selbstironie, ein NationalsportDie Sitcom, bei der sich die Mittelschicht vor Lachen biegtTorrente, dümmer geht’s nimmerMit rumänischem Witz gegen die Diktatur

Britisches Understatement, eine ernste Angelegenheit

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