Eines Tages könnte das alles dir gehören. David Cameron besucht Angela Merkel in Berlin, 21. Mai 2010

Cameron, freie Bahn in Europa

Dank seiner Koalition mit den Liberaldemokraten befindet sich der neue britische Premierminister nicht mehr als Geisel in den Fängen der euroskeptischen Elemente seiner eigenen Partei. Diese Gelegenheit - und die gegenwärtigen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der EU - könnte Großbritannien beim Schopfe packen und sich als treibende Kraft in Europa etablieren.

Veröffentlicht am 27 Mai 2010 um 14:35
Eines Tages könnte das alles dir gehören. David Cameron besucht Angela Merkel in Berlin, 21. Mai 2010

Es ist ein Rätsel: Tony Blair galt als pro-europäischster Premierminister seit Edward Heath. Hinter sich ließ er ein an den Rand gedrängtes Großbritannien, welches der Europäischen Union misstraute. (Als Ergebnis des Irakkriegs, seinem Versuch, Europa entlang der Rumsfelder Linie in ein altes und ein neues zu teilen, und seiner Realpolitik-Lügen über die französische Irak-Politik.) David Cameron steht an der Spitze der größten, parlamentarischsten und Brüssel-feindlichsten Partei, die Großbritannien je gesehen hat, seit es zur EU gehört. Und dennoch könnte er der Regierungschef werden, der das britische Volk mit Europa versöhnt und Großbritannien erstmals zu einer durchwegs positiven Führungsrolle in Brüssel verhilft. Er könnte. Das heist aber lange noch nicht, dass er das auch tun wird.

Im Kartenspiel der britischen und europäischen Politik hat Cameron ein ziemlich interessantes Blatt auf der Hand. Vor einem Monat noch glaubten viele, dass die Tory-Regierung Camerons versuchen würde, in Europa so wenig wie möglich zu tun, dass er aber – gepeinigt von einer zutiefst euroskeptischen neuen Parlamentspartei – gezwungen sei, sich in einer Reihe von Streitigkeiten mit seinen EU-Partnern aufzureiben. Nun entdeckt sich Cameron selbst als Chef einer Koalitionsregierung mit den sehr pro-europäischen Liberaldemokraten. Sein Vizepremier Nick Clegg hat vorher für die Europäische Kommission gearbeitet und war Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Camerons erste Auslandsreise als Regierungschef führte ihn nach Europa, wo ihm Präsident Sarkozy schmeichelte und Kanzlerin Angela Merkel ihn mit "du" und "David" (wenn auch noch nicht mit "Dave") ansprach.

Cameron in der Koalition: Raum für neuen Europragmatismus

Cameron erklärte, dass Großbritannien nicht an Bord des ramponierten Euro-Wracks klettern würde. Schließlich versuche es sich im schwersten Sturm seiner kurzen Geschichte gerade selbst im Überlebenskampf. Diesbezüglich also keinerlei Überraschungen. Jedoch verkündete er weiterhin, dass Großbritannien an einem starken und erfolgreichen Euro interessiert sei. Darauf reagierten viele Europäer mit Begeisterung. Dies bedeutete eine willkommene Änderung der herkömmlichen britischen Haltung gegenüber allem, was in den vergangenen 60 Jahren aus Europa kam – angefangen bei der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bis hin zur Champions League. "Fürs Erste werden wir nicht beitreten. In der Zwischenzeit vertrauen wir aber darauf und hoffen, dass Euer Vorhaben schiefgehen wird."

Man könnte den Eindruck bekommen, dass Cameron sich als Regierungschef einer konservativen und liberaldemokratischen Koalitionsregierung wohler fühlt als er dies an der Spitze einer Tory-Mehrheit getan hätte. Das verschafft ihm mehr Handlungsspielraum und passt viel besser zu seinem auf Versöhnung ausgerichtetes Temperament. Ganz besonders effizient könnte das für Europa sein. Als Oppositionsführer fuhr er eine modernisierende und moderate Strategie, die versuchte, sich in Sachen EU unter dem Deckmantel der mehr-Thatcher-als-Thatcher-selbst-Gangart vom Thatcher-Dogma freizumachen. Und die klassischen Euro-Torys der dezent föderalistischen Europäischen Volkspartei (zu der auch Sarkozy und Merkel gehören) konnte er dazu bewegen, eine Allianz mit dem bunten Durcheinander der größtenteils osteuropäischen Sonderlinge einzugehen.

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Und egal was die erzkonservativen Euroskeptiker der Torys auch denken mögen: Die Liberaldemokraten geben Cameron nun die Möglichkeit, ein pragmatisches und auf Zusammenarbeit basierendes neues britisches Europa-Programm zu entwickeln. Im Wahlprogramm der Konservativen war die Rede von der Rückführung der Entscheidungsbefugnisse. Ziel war es, die überstaatlichen Instanzen der EU so sehr zu reduzieren, dass bloß noch eine "Gemeinschaft von Staaten" übrig bleibe. Die Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten einigte sich darauf, beide Positionen zu vereinen: Europa gegenüber positive Haltungen und Euroskeptizismus. Von der Rückführung der Entscheidungsbefugnisse ist aber nirgends die Rede. Es wurde sogar angedeutet, dass eine neue EU-Gesetzgebung zur gemeinsamen Regelung der Strafjustiz-Politik von britischem Interesse sei.

Union der Streithähne: London hat freie Bahn in der EU

Das Schicksal hat Herrn Cameron eine andere hilfreiche Karte zugespielt. Als Ergebnis der unübertrefflichen Schuldenkrise hat sich die Europapolitik als verblüffender Katalysator erwiesen. Oder – je nach dem was man vorzieht – Europa in die Klemme gebracht. Deutschland scheint nicht mehr an seine euro-föderalistische Religion zu glauben, will aber gleichzeitig die Verträge ändern, um der EU neue Befugnisse zu erteilen, mithilfe derer sie die nationalen Finanzen kontrollieren könnte.

Die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland sind seither gereizt. Silvio Berlusconis Italien hat wenig Einfluss. Spanien kämpft um seine eigene Rettung. Belgien fällt auseinander. Die neue – aus dem Vertrag von Lissabon hervorgehende – Führung in Brüssel ging nach hinten los: Größtenteils weil untaugliche Persönlichkeiten die führenden Rollen übernahmen. Warum jedoch sind sie so ungeeignet? Weil die Mehrheit der europäischen Regierungen, als der Zeitpunkt der Entscheidung gekommen war, bevorzugte, farblosen Personen die Macht zu überlassen.

Auf der Suche nach einer neuen, moderaten aber wirksamen Form von Euro-Pragmatismus könnte sich der vom Cleggismus ergänzte Cameronismus also überraschenderweise nah am Sarkozismus und Merkelismus bewegen. Für Großbritannien wird es in den nächsten Jahren viele reizvolle Möglichkeiten geben, sich gegen den Rest zu stellen: Wenn es um britische Haushaltsnachlässe oder die zukünftige Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik gehen wird. Jedoch könnten sich das Führungsvakuum der EU und die Spannungen zwischen Berlin und Paris für Cameron, Clegg und sogar einen Euroskeptiker wie William Hague als entscheidende Gelegenheit erweisen. (jh)

Wirtschaftskrise

Wie die Euroskeptiker den Euro retten könnten

Unter der entschlossenen Euroskeptikerin Margaret Thatcher war der Konservative und Abgeordnete John Redwood, einst "Privatisierungs-Pol Pot" genannt, ein Star. Nun spricht er sich inden Spalten derTimes dafür aus, dass Großbritannien dabei helfen sollte, die Einheitswährung zu stärken. Wie bitte? "Niemals sollte man eine gute Krise umkommen lassen", lautet seine Antwort. Schließlich "könnte dies für Großbritannien die Gelegenheit sein, im Gegenzug dafür, dass man den Ländern der Eurozone erlaubt, eine noch engere Union einzugehen, Entscheidungsbefugnisse zurückzuführen". Zunächst fällt Redwoods Blick auf den Sterling in Großbritannien. "London und der Großteil des Südostens haben eine starke und wettbewerbsfähige Wirtschaft. Aber Liverpool und die walisischen Täler können nicht abwerten, um sich selbst wettbewerbsfähiger zu machen. Unterdessen überweist die Zentralregierung den Teilen der Union [des Veinigten Königreichs], die höhere Arbeitslosenzahlen und weniger Einnahmen haben, umfangreiche Zahlungen, um die Union erträglich zu machen. Wir alle akzeptieren das als einen Teil des Preises, den wir zahlen müssen, um zum gemeinsamen Währungsgebiet zu gehören."

Redwood weist darauf hin, dass ein erfolgreicher Euro für Großbritannien wichtig ist, dass Griechenland mehr Disziplin braucht, und dass "Deutschland akzeptieren muss, dass es für die anderen Teile der Wahrungsunion mehr Verantwortung trägt und diese mitfinanzieren muss." Großbritannien sollte den Mitgliedern der Eurozone also dabei helfen, ein Gerüst für ihre Haushaltsstabilität aufzubauen. "Als Preis für unser Einverständnis mit der Bildung einer Wirtschaftsregierung für das Euroland könnten wir darum bitten, dass uns bestimmte Entscheidungsbefugnisse zurückgegeben werden." Und zwar im Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.

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