Glucksmann: “Das Krisenbewusstsein kennzeichnet die europäische Moderne"

Gebeutelte Finanzen, destabilisierte Gesellschaften, ein geschwächtes Gemeinschaftsprojekt: die Probleme, mit denen die EU nun seit einigen Jahren ringt, sind vielfältig. Nach der Sommerpause stehen für die Politiker und Bürger Europas einige wichtige Entscheidungen bevor. Der Spiegel hat mit dem französischen Intellektuellen André Glucksmann gesprochen, wie wir dafür einen neuen Antrieb finden können.

Veröffentlicht am 3 September 2012 um 11:20

Herr Glucksmann, kann Ihnen nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die Sie als antitotalitärer Denker sowohl intellektuell wie existentiell gemacht haben, um die Zukunft Europas wieder bang werden?

Ich habe nie geglaubt, dass nach dem Ende des Faschismus und des Kommunismus alle Gefahren gebannt seien. Die Geschichte kommt nicht zum Stillstand. Europa ist nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs nicht aus ihr herausgetreten, auch wenn es gelegentlich dieses Verlangen zu spüren scheint. Demokratien ignorieren oder vergessen die tragische Dimension der Geschichte gern. So gesehen sage ich: Ja, die gegenwärtige Entwicklung ist ziemlich beunruhigend.

Die europäische Gemeinschaft hat sich seit ihren Anfängen vor 60 Jahren fast immer von einer Krise zur nächsten gehangelt. Rückschläge gehören zu ihrem normalen Funktionsmodus.

Das Krisenbewusstsein kennzeichnet die europäische Moderne. Man kann daraus die allgemeine Lehre ziehen, dass Europa eben keine Nation ist, keine Gemeinschaft im nationalen Sinn, die organisch zusammenwächst. Es ist auch nicht vergleichbar mit den griechischen Stadtstaaten der Antike, die trotz ihrer Gegensätze und Rivalitäten eine kulturelle Einheit bildeten.

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Eine kulturelle Gemeinsamkeit verbindet auch die Staaten Europas. Gibt es so etwas wie einen europäischen Geist?

Die europäischen Nationen ähneln sich nicht, deshalb kann man sie nicht verschmelzen. Was sie verbindet, ist nicht eine Gemeinschaft, sondern ein Gesellschaftsentwurf. Es gibt eine europäische Zivilisation, ein westliches Denken.

Wodurch zeichnet sich dieses aus?

Seit den Griechen, von Sokrates über Platon bis Aristoteles, hat die westliche Philosophie zwei fundamentale Prinzipien geerbt: Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge, er ist nicht vor dem Scheitern und dem Übel gefeit. Und dennoch ist er verantwortlich für sich selbst, für alles, was er tut und unterlässt. Das Abenteuer der Menschheit ist eine ununterbrochene menschliche Schöpfung. Gott ist darin außen vor.

Fehlbarkeit und Freiheit also – aber diese Grundlagen der europäischen Geistesgeschichte reichen nicht aus, um eine dauerhafte politische Union herzustellen?

Europa stellte nie eine nationale Einheit dar, nicht einmal im christlichen Mittelalter. Die Christenheit blieb immer gespalten – römisch, griechisch, später protestantisch. Ein europäischer Föderalstaat, eine europäische Konföderation ist ein Fernziel, das in der Abstraktion des Begriffs verharrt. Sie an- zustreben halte ich für eine falsch gestellte Aufgabe.

Jagt die Europäische Union einer politischen und geschichtlichen Utopie nach?

Die europäischen Gründer- väter beriefen sich gern auf den karolingischen Mythos. Nach Karl dem Großen konnte man einen europäischen Preis benennen. Aber schon seine Enkel teilten das Reich unter sich auf. Europa ist eine Einheit in der Teilung oder eine Teilung in der Einheit, wie Sie wollen, auf keinen Fall aber eine Gemeinschaft, weder religiös noch sprachlich noch moralisch.

Und doch existiert sie. Was schließen Sie daraus?

Das Krisenhafte der Europäischen Union ist ein Merkmal ihrer Zivilisation. Sie konstituiert sich nicht durch ihre Identität, sondern durch ihr Anderssein. Eine Zivilisation gründet sich nicht unbedingt auf das gemeinsam angestrebte Beste, sondern auf die Ausgrenzung, die Tabuisierung des Übels. Die Europäische Union ist historisch eine Abwehrreaktion auf den Schrecken.

Eine negative Einheit, die aus der Erfahrung zweier Weltkriege hervorging?

Schon im Mittelalter beteten und sangen die Gläubigen in ihren Litaneien: Herr, schütze uns vor Pest, Hunger und Krieg. Das heißt: Die Gemeinschaft besteht nicht für das Gute, sondern gegen das Böse.

„Nie wieder Krieg“ wird noch heute gern als die Zweckbestimmung Europas, seine Raison d’être, beschworen. Trägt dieses Fundament noch, wenn sich das Gespenst des Kriegs in Europa aufgelöst hat?

Die Balkan-Kriege im ehemaligen Jugoslawien, das Mordbrennen der Russen im Kaukasus liegen noch nicht so lange zurück. Die Europäische Union hatte sich gegen drei Übel zusammengefunden: die Erinnerung an Hitler mit Holocaust, Rassismus und extremem Nationalismus; den Sowjetkommunismus im Kalten Krieg; und letztlich gegen den Kolonialismus, von dem manche Staaten der Europäischen Gemeinschaft sich schmerzhaft verabschieden mussten. Diese drei Gegengründe bedingten eine gemeinsame Auffassung von Demokratie, eine zivilisatorische Leitidee Europas.

Fehlt es heute an einer neuen, einigenden Herausforderung?

Die wäre unschwer zu finden, wenn Europa nicht so kopflos agieren würde. Das Kernstück des Zusammenschlusses war Anfang der fünfziger Jahre die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der erste supranationale Wirtschaftsverband im Bereich der Schwerindustrie: Lothringen und die Ruhr, die Montanunion als Mittel der Kriegsverhinderung. Das entsprechende Gegenstück heute wäre, jedermann weiß es, eine europäische Energie- Union. Stattdessen hat Deutschland seine Energiewende im Alleingang beschlossen, die europäische Dimension bleibt ausgeblendet. Jeder verhandelt mit Russland für sich allein über Öl und Gas, Deutsch- land vereinbarte den Bau der Ostsee- Pipeline gegen den Widerstand Polens und der Ukraine, Italien ist bei der South- Stream-Leitung durch das Schwarze Meer dabei.

André Glucksmann

Vom Maoisten zum Befürworter von NATO-Einsätzen

Der französische Philosoph und Essayist André Glucksmann (geb. 1937) war nach der Mai-Revolte 1968 im maoistischen Milieu aktiv, rechnete in seinem 1975 veröffentlichten Buch „Köchin und Menschenfresser – Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager" und seiner 1977 erschienenen Abhandlung„"Die Meisterdenker" aber mit dem sowjetischen Totalitarismus und seinen Verfechtern im Westen ab.

Neben Bernard-Henri Lévy ist Glucksmann einer der führenden Köpfe der sogenannten „Neuen Philosophen“. Sie verstehen sich als französische Intellektuelle, deren Aufgabe es ist, die Beziehungen der politischen Linken zum Kommunismus kritisch hinterfragen.

Nachdem er sich für die Unterstützung der vietnamesischen „Boat People“ eingesetzt hatte, trat er – zum Schutz der Menschenrechte – im Laufe der Jahre für die NATO, den Golfkrieg, die Planung eines Einsatzes in Bosnien-Herzegowina, die Angriffe der NATO auf Serbien und die Invasion des Iraks ein.

Vor dem Hintergrund seiner Bemühungen, gegen Wladimir Putin vorzugehen und den tschetschenischen Separatisten zu helfen, unterstützte er Nicolas Sarkozy bei den Präsidentschaftswahlen 2007. Im Nachhinein gab er öffentlich zu, diese Entscheidung zu bereuen und verurteilte Frankreichs viel zu entgegenkommende Haltung gegenüber Russland.

Zu Glucksmanns Werken gehören unter anderem L'Esprit post-totalitaire (1986) [Der post-totalitäre Geist], De Gaulle où es-tu (1995) (in Deutschland unter dem Titel „Krieg um den Frieden" erschienen), sowie Dostoïevski à Manhattan, in dem er sich mit den Anschlägen vom 11. September auseinandersetzt.

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