Die Eurozone wertet Europa ab

Seit Monaten erwägen Griechen und Deutsche die Möglichkeit, Athen könne aus dem Euro austreten. Doch diese Diskussion unterstellt, dass es außerhalb der gemeinsamen Währung gar keine EU gibt. Eine solche Einstellung begünstigt Spaltung und gegenseitige Verachtung, wie der griechische Autor Petros Markaris ausführt.

Veröffentlicht am 11 September 2012 um 13:37

Entfernen wir uns doch einmal von der harten Realität mit ihren 11,88 Milliarden Euro hohen Haushaltskürzungen [die die Regierung finden und von der Troika absegnen lassen will]. Nehmen wir Abstand von Themen wie begangenen Fehlern, dem Mangel an politischem System, der unmenschlichen Belastung für die Bürger, der von der Troika verlangten Kürzungen und Opfer – Themen, die durch die wiederholten Analysen der Journalisten und Akademiker zu einer baren Offensichtlichkeit geworden sind.

Europa und Euro im gleichen Sack

Sprechen wir doch ein bisschen über die Substanz, nämlich diese Einheit namens „Europa“. Ich fürchte, dass wir Europäer uns von den Politikern haben anstecken lassen und einen fatalen Fehler begangen haben: Wir haben Europa und den Euro in denselben Sack gesteckt.

Wer nicht nur das griechische, sondern das europäische Zeitgeschehen von Nahem verfolgt, hat den Eindruck, dass Europa – vor allem seit Beginn der Krise – ohne den Euro nicht existiert. In der Vorstellung der Europäer herrscht die annähernd absolute Gewissheit, dass derjenige, der nicht zur Eurozone gehört, auch nicht als Europäer betrachtet wird.

Drohungen und Psychodramen

Das frappierendste Beispiel für diese Mentalität ist in den griechischen Medien zu finden. In den letzten Monaten habe ich Tag für Tag das Psychodrama mit Deutschland verfolgt, das uns entweder aus der Eurozone hinauswerfen oder darin behalten will.

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Bis zum Besuch des griechischen Ministerpräsidenten Antonis Samaras bei Frau Merkel [am 24. August] lautete die allgemeine Auffassung, man wolle uns hinausdrängen. Jetzt sind wir zu einer etwas beruhigenderen Perspektive übergegangen, mit Chancen zu 50/50.

Während des ganzen ersten Teils des Psychodramas begrenzte sich die Angst nicht nur auf die katastrophalen Konsequenzen eines Austritts auf die griechische Wirtschaft, sondern man fürchtete auch, Griechenland würde zu einer Art Paria-Staat werden.

Das Gleiche galt für die Deutschen, aber umgekehrt. Das Argument derjenigen deutschen Bürger, die uns hinauswerfen wollen, basiert nicht nur darauf, dass Griechenland mit dem Euro nicht zurande kommt, sondern dass man es zugleich für seine Versäumnisse bestrafen und anprangern oder zumindest ins Straflager schicken muss.

Und ich frage mich: Sind die Staaten, die zur EU, aber nicht zur Eurozone gehören, denn alle Ausgestoßene? Leben Großbritannien, Dänemark, Schweden, Tschechien, Ungarn, Polen und fünf andere Länder in Straflagern? Ist denn Deutschland, das Europa zweimal zerstört hat, europäischer als Großbritannien, das es zweimal gerettet hat? Großbritannien mag tausenderlei Eigenheiten haben, doch es war immer zur Stelle, wenn Europa es brauchte.

Ich fürchte, wir stecken in einer Spirale, aus der wir nicht wieder herausfinden. Ich sage das, weil ich seit Anfang der Krise in der europäischen Presse nur selten einen Artikel gelesen habe, in dem es um die Länder außerhalb der Eurozone ging – mit Ausnahme von Großbritannien. Und im Fall Großbritannien ist das Interesse durch die Komplikationen begründet, die seine Politik der Eurozone beschert.

Der Euro ist nicht nur ein Währungsunterschied

Damit mich niemand falsch versteht, sage ich es lieber klar und deutlich: Ich gehöre nicht zu denjenigen, die eine Rückkehr zur Drachme vertreten. Ich habe auch nichts dagegen, dass Handelsbeziehungen in Euro ablaufen, sofern nicht vergessen wird, dass der Euro eine Währung unter Tausenden ist, ein Tauschmittel.

Er ist nicht der Eckstein unserer Existenz. Es gab schon vor dem Euro ein vereintes Europa, selbst wenn es damals nicht so hieß. Der Unterschied zwischen dem Europa vor dem Euro und dem Europa des Euro liegt nicht nur in der gemeinsamen Währung.

Vor dem Euro war Europa mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Es war auch die Vision der Väter der europäischen Integration: Länder mit unterschiedlicher Sprache, Geschichte, Kultur und Tradition wollten diese unter dem Dach gemeinsamer europäischer Werte vereinen.

Man braucht sich nur in Erinnerung zu rufen, dass die Länder des ehemaligen sozialistischen Blocks nicht nur wegen des gemeinsamen Markts und der Aussichten auf einen besseren Lebensstandard zu Europa gehören wollten, sondern auch weil sie 45 Jahre lang die gemeinsamen europäischen Werte entbehren mussten und nun danach verlangten.

Der letzte, der auf diese Themen Bezug nahm, war Jacques Delors. Nach Delors geriet die Debatte um dieses ambitionierte Projekt in Vergessenheit – bis zur Einführung des Euro. Dann hat die gemeinsame Währung die gemeinsamen Wertvorstellungen verschlungen.

Über Europa reden nur noch Wirtschaftsexperten

Die Einheit der Europäischen Union wurde durch die Einheit der Eurozone ersetzt. Heute leben wir in einem Europa, in dem nur Politiker und Wirtschaftsexperten das Wort führen. Aus diesem Grund ist die Debatte wenig hintergründig, ganz wie die meisten der europäischen Staatsoberhäupter, und so eindimensional wie der traditionelle Diskurs der Wirtschaftsexperten.

Es fehlt ein globaler Blick auf Europa, weil sich Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle nur selten ausdrücken. Das Dilemma Euro oder Drachme stellt sich mir nicht. Doch eine Frage wirft sich auf: Welches Europa? Es gab ein Europa vor dem Euro. Wird es auch ein Europa nach dem Euro geben, wenn der Euro morgen zusammenbricht?

In Mittel- und Nordeuropa grassiert eine Protestbewegung in der Bevölkerung, die den nutzlosen und verschwenderischen Südeuropäern kein Geld mehr geben will. Das mag uns erzürnen, doch wir dürfen es ihnen nicht übel nehmen. Wir hätten an ihrer Stelle dasselbe gedacht, ganz wie die Spanier, die Italiener oder die Portugiesen. Kennen Sie einen Reichen, der sein Geld mit den Armen teilt?

Gleichzeitig entwickelt sich in den südlichen Ländern ein Gefühl des Zorns gegen die reichen Länder Europas, und zwar von Seiten der leidenden Völker, die fast täglich dabei zusehen müssen, wie ihr Lebensstandard ein wenig mehr zurückgeht.

Ebenso wie uns geht es auch den Spaniern, Italienern und Portugiesen. Auch ihnen kann dies niemand übel nehmen, und genau darin liegt das Problem. Denn wenn der Euro nicht hält, dann ist es nicht sicher, dass es noch ein Europa nach dem Euro gibt.

Europa ist bedroht

Am Wahrscheinlichsten ist es, dass wir dann ein gespaltenes Europa haben, in dem ein Teil dem anderen das Scheitern des Euro vorwirft. Wir haben dann ein in zwei Lager geteiltes Europa, in dem das eine das andere verabscheut und verachtet.

Ich sage nicht, dass wir aus dem Euro austreten müssen. Doch wir müssen abschätzen, ob es der Euro wert ist, Europa in zwei feindliche Lager zu spalten.

Ob er es verdient, zu zerstören, was Europa seit 1957 unter sehr schweren Bedingungen aufgebaut hat. Wir jagen den Zahlen hinterher und verlieren dabei die Menschen, das ist das Schlimme. Ich hoffe, ich habe Unrecht, aber wir bewegen uns auf die Rivalität eines europäischen Bürgerkriegs zu. (PLM)

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