Keine Ausflüchte mehr für Europas Politiker

Das Urteil des Bundesgerichtshofs hat dem ersten Teil des europäischen „Vereinigungskriegs“ ein Ende gesetzt. Jetzt beginnt jedoch ein neuer Kampf, denn es gilt, die politischen Kräfte in den einzelnen Ländern davon zu überzeugen, dass sie zugunsten einer neuen europäischen Ordnung auf ihre Staatssouveränität verzichten.

Veröffentlicht am 13 September 2012 um 15:29

Wie in einem actiongeladenen Ego-Shooter ist Europa der x-ten Falle aus dem Weg gegangen und kann nun in den nächsten Level aufsteigen, in dem es endlich die Bazooka gegen Spekulanten schultern darf, auf die es seit einem Jahr wartet.

Dem Urteil der deutschen Verfassungsrichter zufolge schmälert der neue Rettungsschirm ESM [Europäischer Stabilitätsmechanismus] nicht die Rechte des Bundestags. Die Richter haben ihr Plazet zwar an einige Bedingungen geknüpft, die implizit die deutsche Hegemonie über die europäischen Angelegenheiten untermauern, die Konditionen sind jedoch nicht so streng, wie ursprünglich befürchtet wurde.

Beginn eines komplizierteren Kapitels

Das Urteil aus Karlsruhe mag der ersten und blutigsten Phase des europäischen Vereinigungskriegs ein Ende setzen, der sich glücklicherweise an den Finanzmärkten und nicht in den Schützengräben abgespielt hat, aber es schlägt auch ein neues Kapitel auf, das vielleicht noch heikler ist.

Denn nun weitet sich die Schlacht von der Wirtschaft auf die Politik aus: Von den Finanzinstituten ausgehend ergreift sie die Parlamente, die Regierungen und die Wahllokale, in denen die Bürger der Mitgliedstaaten in den nächsten Jahren die Zukunft des Kontinents besiegeln werden.

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Dank des Muts und des Weitblicks Mario Draghis und der wenn auch verspäteten Entscheidungen der Regierungschefs hat der Euroraum bewiesen, dass, wie der EZB-Präsident unterstrich, der Euro „nicht umkehrbar“ sei, und hat sich mit den nötigen Instrumenten ausgerüstet, um seine Währung zu stützen. Doch wäre es ein gewaltiger Irrtum zu glauben, der Krieg sei nun gewonnen.

Die Frage der Glaubwürdigkeit der Union wurde lediglich auf den nächsthöheren Level verlegt: vom Euro auf Europa selbst, von der Währung auf den Souverän, der sie prägt. Dieser Souverän wirkt zurzeit noch ziemlich unbestimmt und daher kaum überzeugend.

Das Ende der ökonomischen Ausflüchte

Wir können uns also noch nicht zurücklehnen. Aber die neue Schlacht ist rein politisch. Zudem wird sie auf mindestens drei Ebenen gleichzeitig ausgetragen.

Der erste Level betrifft die Wirtschaftspolitik. Die finanziellen Rettungsringe, die nun endlich zur Verfügung stehen, können nur ihren Zweck erfüllen, wenn die Regierungen der Länder, die in den letzten Jahren die Herausforderung der Wettbewerbsfähigkeit und der Sparprogramme nicht bestanden haben, den eingegangenen Verpflichtungen nachkommen und den verlorenen Boden wiedergewinnen. Das wird weder einfach noch schmerzlos sein.

Aber wenn Spanien oder Italien im nächsten Jahrzehnt von ihrem Kurs abkommen, dann waren alle ihre Anstrengungen vergebens. Der Euro konnte zwar gerade noch dem mangelnden Engagement der Griechen widerstehen, wäre aber nicht imstande, die Desertion von Volkswirtschaften zu überleben, die zehn bis zwanzig Mal größer sind.

Politische Etappensiege gegen die Euro-Skeptiker?

Der zweite Level betrifft die Politik in den einzelnen Ländern. Gestern wählten die Niederländer ihr Parlament. Diese Wahl war de facto ein Referendum über Europa, das zu einem durchschlagenden Erfolg der Euro-Befürworter führte.

Vor den Niederländern haben die Griechen (zweimal) über Europa abgestimmt. Danach sind die Italiener an der Reihe und auch bei uns werden sich die Euro-Befürworter und die Euro-Skeptiker gegenüberstehen.

Auf Italien folgt Deutschland mit derselben Fragestellung. Nach einigem Zögern entschied sich Angela Merkel, in Bezug auf Europa in Helmut Kohls Fahrwasser zu segeln. Aber nicht alle ihre Anhänger scheinen bereit zu sein, sie auf diesem Weg zu begleiten, deshalb sind die kommenden Wahlen wieder eine Schlacht, in der es gilt, die Deutschen für das Europaprojekt zu gewinnen oder wiederzugewinnen.

Alle Demokratien der Union, eine nach der anderen, müssen sich mit diesem Unterfangen auseinandersetzen, mit seinen Kosten und seinen Herausforderungen.

Der dritte und wohl komplexeste Level betrifft die Europapolitik. Gestern schlug die Kommission vor, die EZB mit der Aufsicht über die sechs Tausend Banken der Union zu betrauen. Das ist der erste Schritt zu einer Bankenunion, aber auch ein Schritt, der den Deutschen missfällt.

Gestern erklärte auch José Manuel Barroso [Präsident der Europäischen Kommission] vor dem europäischen Parlament, die Zukunft Europas läge in einer Föderation aus Nationalstaaten. Diese Idee missfällt wiederum den Franzosen.

Im Oktober sollen sich die Regierungschefs über das von Herman Van Rompuy, Mario Draghi, José Manuel Barroso und Jean-Claude Juncker präsentierte Integrationsprojekt aussprechen. Es soll Reformen enthalten, die keine Änderung der Verträge erfordern, aber auch Vorgaben und Pläne für die Änderung dieser Verträge, die zu einer echten Haushalts- und politischen Union führen sollen.

Souveränitätsverwirrungen

Das Nebeneinander der Staatssouveränität und der europäischen Souveränität führt zu Verwirrungen und immer ernsteren Problemen, die zum Wohl der Demokratie gelöst werden müssen. Das bezeugt das gestrige Urteil, als dreihundert Millionen Europäer an den Lippen der acht von den Bundesländern ernannten Richter hingen.

Nach der Rettung der Währung heißt es jetzt,Europa zu retten und ihm die Rechte zu verleihen, die es noch nicht besitzt. Aber die Reaktion der einzelnen Staaten auf diese Frage hängt weitgehend vom Ausgang der beiden anderen Herausforderungen ab, - der Wirtschaftspolitik und den neuen Mehrheiten in den Parlamenten - die vielleicht zum letzten Mal an den Schiedsspruch der nationalen Demokratien geknüpft sind. (CR)

Aus Paris

Deutschlands dreifacher Verzicht

Mit den jüngsten Entscheidungen der Europäischen Zentralbank am 6. September und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe am 12. September wurde „das Schicksal des Euro in die Hände von Verantwortungsträgern gelegt, die weder in der Politik tätig sind, noch von Wahlberechtigten auserkoren wurden und schon gar nicht abgewählt werden können: Die Bankiers der Zentralbank in Frankfurt und die deutschen Verfassungsrichter in Karlsruhe“, schreibt Le Monde und führt fort:

Diese Situation wirft das Problem der demokratischen Legitimität auf und verschärft die Gegensätze zwischen deutschem und romanischem – und insbesondere französischem – Geist. [Letzterer] beruft sich auf das Primat der Politik und der Volkssouveränität. [...] Die Deutschen haben aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts dagegen ihre Lehren gezogen und hüten sich vor der Politik. [...] Mit den Entscheidungen Mario Draghis [...] hat Frankreich paradoxerweise allerdings kein Problem, während der deutsche Geist sie heftig kritisiert.

Mit ihrer Entscheidung, den Euro auf Biegen und Brechen zu retten, haben die sowieso nur geringfügig demokratischen Institutionen ganz besonders politische Entscheidungen gefällt, meinen die Franzosen. [...] Auch die Deutschen sind darüber entrüstet, wenn auch aus anderen Gründen. Ihrer Meinung nach hat die EZB damit ihre Unabhängigkeit aufgegeben. Was das Urteil der Verfassungsrichter in Karlsruhe angeht [...], so besiegelt es ein zukünftiges Europa der Finanztransfers.

Faktisch hat Deutschland in nur einer Woche eine ganze Menge verloren, meint die französische Tageszeitung:

Aus dem dem scheinbar dreifachen Vetorecht Deutschlands – aus Frankfurt, Karlsruhe und Berlin – ist ein dreifacher Verzicht geworden, der sich den Deutschen nun aufdrängt. Auf dem Altar des Euro wurden die alten Institutionen der Bundesrepublik geopfert.

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