Ist Europa das neue Liliput? Der World Park, Shenzhen, China.

Wie China Europa übergeht

Vor fünf Jahren war China die große Hoffnung der Europäischen Union. Brüssel war der Überzeugung, auch das Reich der Mitte folge dem Weg des postmodernen Pazifismus, den Europa selbst eingeschlagen hatte. Heute erkennen die Europäer, dass das alles nur ihr großes westliches Wunschdenken war.

Veröffentlicht am 8 Juni 2010 um 14:07
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Vor drei oder vier Jahren beschwerte man sich in den Kreisen der europäischen Außenpolitik ständig über Bushs Vereinigte Staaten und das Imponiergehabe im Kreml. China wurde jedoch bejubelt – als eine Macht, die den Wert der europäischen Zivilisation erfasste.

Brüssel begann, in Pekings Weltanschauung Werte zu sehen, die für manch ein näher an China gelegenes Land unsichtbar waren. China, so hieß es, strebe nach einer multipolaren, auf internationalem Recht beruhenden Welt. Seine Politik kreise vorwiegend um die Soft Power. EU-Präsident José Manuel Barroso sprach nach einem Besuch in China 2005 vom Triangulationsnetz EU-China-USA, das "eine Weltordnung des 21. Jahrhunderts" ausgestalten würde. Ihm schwebten dabei ein "kooperatives Eurasien unter sino-europäischer Führung" sowie eine "auf China ausgerichtete Asienpolitik der USA" vor.

Den Europäer umwerbe wirtschaftlich und ignoriere strategisch

Manch einer sah Europa als eine Gruppe erfahrener Staatsmänner, die den chinesischen Neuling in Weltgewandtheit unterrichteten. "Es wird von Europa erwartet, sich seiner historischen Verantwortung zu stellen", kündigte die Analyse einer spanischen Denkfabrik an. Heute fragen sich die Europäer, was sie damals wohl geraucht hatten. Beim diesjährigen Brüsseler Forum lag die Desillusion spürbar in der Luft. Sogar vor zwei Jahren noch waren die europäischen Beamten China gegenüber positiver eingestellt als den USA gegenüber. Peking scheint diesen Blick durch die rosa Brille noch fleißig gefördert zu haben.

China machte sich keinerlei Illusionen darüber, was Europa ihm bedeutete. Die Europäer waren reich, aber schwach. Sie mussten in wirtschaftlicher Hinsicht umworben, doch in strategischen Belangen ignoriert werden. Peking ging mit dieser Beziehung um wie mit einem Schachspiel, bei welchem sich "27 Gegner auf der anderen Brettseite drängten und sich über den nächsten Zug stritten".

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Die EU wurde Chinas erster Handelspartner, doch Peking stellte so viele Barrieren auf, dass sich die Handelsbilanz zu einem Defizit von fast 170 Milliarden Euro aufblähte – zu Gunsten Pekings. Europa beschwerte sich und wurde ignoriert. Europa ist zwar wirtschaftlich stark, so der chinesische Akademiker Pan Wei, "doch wir fürchten es nicht mehr, denn wir wissen, dass China für die EU nötiger ist als die EU für China". Der europäische Analyst Charles Grant ist der Meinung, Europa habe unter der "Kursmanipulation" des Yuan stärker gelitten als die USA. Doch Europa musste auf die USA warten, um etwas dagegen zu unternehmen.

Sinophile Blase platzt mit Unruhen 2008

Obwohl die Unternehmens- und Beamtenkreise bereits langsam skeptisch wurden, ließ erst die brutale Unterdrückung der Unruhen in Tibet 2008 die sinophile Blase platzen. Eine Befragung der fünf größten europäischen Länder setzte China an die Stelle der USA als "größte Bedrohung der Weltstabilität" – die Zahl lag 2006 bei zwölf Prozent und stieg nach den Aufständen schlagartig auf 35 Prozent. Der Rückblick der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) auf die Beziehungen innerhalb des letzten Jahres war heftig.

"Die China-Strategie der EU basiert auf dem anachronistischen Glauben, China werde unter dem Einfluss Europas seine Wirtschaft liberalisieren, das Rechtsstaatsprinzip anwenden und seine Politik demokratisieren... Dabei hat sich sowohl Chinas Außen- als auch Innenpolitik dahingehend entwickelt, dass sie europäischen Wertvorstellungen wenig Beachtung schenkt und Peking gegen letztere heute regelmäßig verstößt oder sie sogar untergräbt." Die Art, wie China mit der EU umgeht, ähnelt einer "diplomatischen Verachtung".

Peking Meister im Ausspielen der Europäer gegeneinander

Dieses Vorgehen wurde durch die fragmentierte Reaktion der EU auf China noch ermutigt. Deutschland war in den Beziehungen mit China der kompromisslose Hardliner. Am anderen Ende des Spektrums stand Rumänien, das chinesische Beamte als den "Allwetterpartner" des Landes bezeichneten. Durch dieses Mosaik war Peking jedoch in der Lage, verschiedene EU-Mitglieder gegeneinander auszuspielen – und tat dies mit großem Geschick.

Der letzte Nagel im Sarg war der Klimagipfel in Kopenhagen. China machte Europas grüne Träume skrupellos zunichte. John Hemmings vom Royal United Service Institute erklärte dazu: "Die große Liebesgeschichte zwischen Europa und China ist vorbei". Auch Grant findet, die EU solle "aus dieser fiktiven ‚strategischen Partnerschaft’ aussteigen, welche keinerlei Bedeutung haben kann, wenn beide Seiten so unterschiedliche Wertvorstellungen haben".

Europäisches Chaos bei der neuen China-Politik

Worauf sich Brüssel und die anderen europäischen Hauptstädte nicht einigen können, ist die Frage, wie die China-Politik nun neu justiert werden soll. Manche plädieren für eine Wiederaufnahme der Verbindungen mit Ländern wie Südkorea und Japan. Andere unterstützen eine Ausrichtung nach Indien und Brasilien. Wieder andere wollen sich an die USA ankoppeln, weil ein vereinter Westen China zum Kuschen bringen könnte. Und manche denken, Europa sollte abwarten, denn die Selbstbehauptung der Chinesen sei nur eine vorübergehende Phase. Doch bis jetzt haben diese Theorien nichts mit der Realität zu tun.

China beherrscht den Handel und die Investitionen in Europa dermaßen, dass keine wirtschaftliche Kombination von Schwellenländern dies ersetzen kann. Obama, der erste US-Präsident ohne instinktiv atlantischen Hintergrund in Jahrzehnten, hat Europa gegenüber bis jetzt nur Ungeduld gezeigt. Brüssel steht noch unter dem Schock seiner Entscheidung, am letzten EU-US Gipfel nicht teilzunehmen, weil der vorige so unproduktiv war. Der ultimative Grund für den Zusammenbruch der China-Politik Europas liegt wieder einmal darin, dass es nicht fähig war, geschlossen und einstimmig vorzugehen. Und keine Übereinkunft oder Neukombination mit dem Rest der Welt wird dieses eine Manko wettmachen können. (pl-m)

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