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Dichtmachen verboten

In Krisenzeiten haben Abkapselung, Egoismus und die Angst vor dem Fremden Hochkonjunktur bei Regierungen und Bürgern. Dabei gehören Einwanderer jetzt ebenso zur europäischen Landschaft wie ihre alteingesessenen Mitbürger, meint Schriftsteller Tahar Ben Jelloun.

Veröffentlicht am 15 Juni 2010 um 15:32

Victor Hugo hat von Europa geträumt. Zu seiner Zeit war das utopisch: "Ein Tag wird kommen, wo die Kugeln und Bomben durch Stimmzettel ersetzt werden, durch das allgemeine Wahlrecht der Völker, durch die Entscheidungen eines großen souveränen Senates… […] Ein Tag wird kommen, wo […] die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten Staaten von Europa, die einen gegenüber den anderen, sich die Hand über das Meer reichen, ihre Produkte, ihren Handel, ihre Industrie, ihre Kunst und ihre Ideen austauschen. […]"

Heute gibt es dieses Europa. In letzter Zeit hat es seine erste große Krise durchlebt. Jedoch ist Europa – egal wie diese Krise ausgehen wird – keine virtuelle Idee oder Utopie mehr, sondern entspricht einer komplexen, unvollständigen und sich verändernden Wirklichkeit. Eine Einheit, die sich im Aufbau befindet und daher umso mehr Willenskraft und Herzenswärme braucht.

Verwöhnte Kinder, die sich ihres Glücks nicht bewusst sind

Europa ist eine Chance. Als positives Ergebnis des Zweiten Weltkrieges ist sie die Idee einer auf geographischen und historischen Eigenschaften, sowie demokratischen Werten und dem Freiheitsgedanken aufbauenden Gemeinschaft mehrerer Länder. Wer jedoch erinnert sich an die Geburt dieser Union, zu der anfangs sieben und nun siebenundzwanzig Länder gehören? Ich habe den Eindruck, dass verwöhnte Kinder diesen nicht ganz geglückten und noch immer der Implosionsgefahr ausgesetzten Verband bewohnen. Einige junge Europäer sind sich nicht des Glückes bewusst, dass sie haben, weil sie hier geboren sind, in Freiheit. Hier, wo sie ohne Probleme reisen können, wo es nur eine einzige Währung gibt (bis auf Großbritannien und Schweden), wo es keinen Krieg gibt, keine Hungersnot und wo der Staat die Arbeitslosen nicht im Stich lässt.

Ich nehme das Beispiel Frankreich, welches ich am besten kenne: Trotz all dem, was man über dieses Land sagen kann, hat es das beste Gesundheitswesen und das beste Sozialsystem der Welt – auch wenn es hier und da Schwierigkeiten gibt, beispielsweise bezüglich der Renten. In diesem Land kann sich egal welcher Bürger in einem Krankenhaus behandeln lassen, ohne dass man seine Kreditkarte verlangt – und dies selbst wenn er nicht arbeitet und demnach keinen Beitrag zur Sozialversicherung geleistet hat. Das französische Krankenhaus unterscheidet nicht zwischen seinen Patienten. Alle werden gleich behandelt. Das muss gesagt und wiederholt werden, weil es eine der wesentlichen Eigenschaften dieses Landes darstellt.

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Aus Solidarität und Brüderlichkeit wird Egoismus

Einige Europäer denken, dass all das bereits zu den Errungenschaften gehört und sich ihre Situation nur verbessern kann. Bestenfalls strengen sie sich nicht mehr an. Sie pflegen ihren Egoismus, lehnen es ab, sich in Frage zu stellen, oder wahrzunehmen, was anderswo geschieht. In Afrika, in Asien, in der arabischen Welt. "Sie wollen immer mehr", so drückte es der Journalist und Beobachter der französischen Gesellschaft François de Closet aus. Der Solidaritätsgedanke verkümmert und verschwindet nach und nach vollständig. Früher – in den 1970er Jahren – gingen die Europäer auf die Straße, um gegen die Diktaturen in Lateinamerika, gegen den Vietnamkrieg, gegen das südafrikanische System der Apartheid, sowie gegen Rassismus und Diskriminierung in Europa selbst zu demonstrieren. Es war das Zeitalter, in dem die Intellektuellen das Signal zur Mobilisierung gaben: Jean-Paul Sartre, Michel Foucault, Jean Genet, Claude Mauriac, Maurice Clavel…

Heute gibt es keine geistigen Vorbilder [maître à penser], keine Großkundgebungen und keine wirkliche Solidarität mit den leidenden Völkern mehr. Etwas wirklich Gutes ist verloren gegangen. Aus dem solidarischen und brüderlichen Europa ist ein Europa der staatlichen und bürgerlichen Egoismen geworden. Einige Politiker – allen voran die von rechts – haben das Spiel mit der Angst getrieben und daraus eine Wahlkampfindustrie gemacht. Die europäische Wirtschaft hat sich zum Teil dank ausländischer Arbeitskraft – d. h. Einwanderern – entwickelt. Nur einige wenige politische Verantwortungsträger erkennen das auch heute noch an und gedenken diesen Bevölkerungsgruppen, die von anderswo kamen. Nun sind es die Kinder dieser Millionen von Immigranten, die zum Problem geworden sind. Was tun mit den dunkelhäutigen, schwarzen oder multikulturellen Europäern? Wie lernt man mit einer anderen Kultur, einer anderen Religion zu leben?

Europas Rolle und Zukunft ist die ständige Erinnerung

Europa sollte lernen, in den Spiegel zu schauen. Sein Bild, seine menschliche Landschaft ist nicht mehr nur weiß, nur christlich. Europa ist ein Gemenge und besteht aus verschiedenen Partikeln. Man sieht das auf der Straße. Aber man sagt sich, dass es sich nur um Passanten in Europa handelt, die in ihr Dorf, ihr Heimatland zurückkehren werden. Irrtum! Diese Menschen sind Europäer. Ihr Land ist Europa. Ihre Nationalität ist die Europäische. Ihre Kultur ist eine Doppelte, oder Dreifache. All das steht für eine menschliche Globalisierung, die nicht industrieller oder finanzieller Natur ist. Der Mensch ist das Kapital der Welt. Nicht die Technik.

Der französische Philosoph Etienne Balibar schreibt in seinem "Vorschlag einer Gleich-Freiheit" [La proposition de l’égaliberté], dass "Europa nicht allein seinem eigenen Selbstzweck dient, sondern als Instrument anerkannt werden muss, welches den Lauf der Globalisierung verändern kann". Die Veränderung Europas, die doch seine Zukunft ausmacht, bleibt unberücksichtigt. Doch ist ein Europa, dem man seine intakte Weißheit seiner traditionellen Kultur zurückgibt, überhaupt noch möglich, realisierbar? Ich denke nicht. (jh)

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