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SimEuropa ist kein Spiel

Die führenden EU-Politiker und EU-Regierungen planen eifrig die Zukunft der EU. Doch diese Fantasien der Variante „mehr Europa“ vergessen eines: Die Krise der Eurozone, die im tatsächlichen Leben stattfindet, so schreibt Charlemagne im Economist.

Veröffentlicht am 24 September 2012 um 13:19

Jeder, der jemals Simulations-Computerspiele wie SimCity oder Die Sims gespielt (oder seinen Kindern dabei zugesehen) hat, weiß wie fesselnd sie sein können. Unzählige Stunden werden damit zugebracht, eine komplizierte künstliche Welt zu erschaffen: ein Haus oder gar eine ganze Stadt, mit erfundenen Figuren, die eine Nonsens-Sprache namens „Simlish“ sprechen, deren Tun man kontrolliert und über die man manchmal Katastrophen hereinbrechen lässt. Ein ähnlicher Wahn hat nun Brüssel ergriffen, nennen wir ihn SimEuropa.

Guido Westerwelle und Radek Sikorski, der deutsche und der polnische Außenminister, verbrachten einen großen Teil des Jahres hinter geschlossenen Türen mit neun ihrer Kollegen (fast alle männlich) und beschäftigten sich mit einer Phantasiewelt. Diese Woche stellten sie das Ergebnis ihrer „Zukunftsgruppe“ vor: eine Welt, in der es einen gewählten europäischen Präsidenten, einen europäischen Außenminister mit mehr Kompetenzen, eine europäische Grenzpolizei und vielleicht sogar eine europäische Armee gibt. Die britischen Spielverderber waren nicht eingeladen.

Erst ein paar Tage zuvor hatte José Manuel Barroso, Präsident der Europäischen Kommission, seine jährliche „Rede zur Lage der Union“ gehalten und von einem zukünftigen „Bund von Nationalstaaten“ gesprochen – ein Begriff, den er seither in zahllosen Zeitungskommentaren wiederholte. Barroso ließ damit zwar den von seinem Vorgänger Jacques Delors geprägten Ausdruck wieder auferstehen, doch ohne zu erklären, was er damit genau meint. Er sagt nur, dass er bis 2014 mehrere Vorschläge vorstellen wird.

Das alte Spiel namens „Mehr Europa“

Mit seinen Worten spaltet sich Barroso von den drei anderen „Präsidenten“ ab – von Herman Van Rompuy vom Europäischen Rat, Mario Draghi von der Europäischen Zentralbank und Jean-Claude Juncker von der Eurogruppe der Finanzminister, die gemeinsam eine „echte“ Wirtschafts- und Währungsunion planen. Van Rompuy legte die „Bausteine“ dafür im Juni und gab nun ein Dokument heraus, das unter anderem einen zentralen Haushalt für die Eurozone vorschlägt. Ein Zwischenbericht könnte bei einem Gipfeltreffen im Oktober vorgelegt werden und die Endfassung dürfte im Dezember herauskommen.

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In vieler Hinsicht startete die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Wahn der Fantasiewelt mit ihren Forderungen nach einer „politischen Union“ (bei welcher auch das unzulängliche Europäische Parlament mehr Macht bekommen soll). In Frankreich ist das ein heikles Thema, denn dort sind die Parteien – seit der Volksbefragung von 1992 über den (ganz knapp bewilligten) Vertrag von Maastricht und dem Referendum von 2005 über einen (abgelehnten) Verfassungsvertrag – äußerst uneinig über Europa. Und doch sprach der sozialistische Finanzminister Pierre Moscovici kürzlich das Wort „Föderalismus“ aus. Und François Fillon, bis vor Kurzem konservativer Premier, schlug einen neuen „Pakt für Europa“ vor, der auch einen europäischen Finanzminister einschließt.

Alle diese Ideen finden ihren Ursprung in einem alten Spiel namens „Mehr Europa“. Das Ziel dabei ist, einen verheerenden Krieg oder die Vorherrschaft eines einzigen Landes durch einen Zusammenschluss zu vermeiden, während der nationale Vorteil jedoch weiter angestrebt wird. Mit den immer tiefer gehenden Problemen wird jede neue Stufe der Integration schwieriger. Die Spieler müssen in den Verhandlungen nicht nur mehr Macht abgeben, sondern die neuen Verträge dann auch ihren widerstrebenden Bevölkerungen feilhalten.

Imaginäre Währung wurde Wirklichkeit

In SimEuropa sind die Menschen künstlich, sie sind aufgeteilt in gute Europäer und böse Nationalisten oder Populisten. Die Bösen können durch „Mehr Europa“ besiegt werden. In der wirklichen Welt ist es dann doch deutlich komplizierter. Es herrscht zunehmende Skepsis bezüglich des europäischen Projekts. Neuesten Umfragen zufolge meinen die Deutschen mehrheitlich, sie wären ohne den Euro besser bedient, und viele wären auch gerne die EU los. In Frankreich würde ein Großteil derer, die damals für Maastricht gestimmt haben, es heute nicht mehr tun. In Spanien allerdings will die Mehrzahl eine vertiefte Integration für die Eurozone.

Euroskeptische und europafeindliche Parteien erheben Anspruch auf erhebliche Teile der Wählerschaft. In den niederländischen Wahlen feierten die Zentristen diesen Monat zwar ein Comeback, doch oft nur deshalb, weil sie beim Thema Rettung der Krisenländer eine harte Linie einhielten. Vielerorts ertönt zunehmend der Ruf nach einer direkten Befragung der Bürger in einem Referendum, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. In Großbritannien hoffen die Euroskeptiker auf eine positive Abstimmung über den Austritt aus der EU, während die Pro-EU-Elite in Deutschland durch ein Referendum die Verfassung ändern und mehr Macht an Brüssel abgeben will.

Indem sie eine imaginäre Währung Wirklichkeit werden ließen, schufen die europäischen Spitzenpolitiker in der wirklichen Welt eine Krise, mit der sie jetzt fertig werden müssen. Eine Rückkehr zur alten D-Mark, zum Franc und zur Lira wäre schmerzlicher als der Versuch, den Euro wieder in Stand zu setzen. Damit die Bürger ihre Wahl treffen können, ist dies allerdings gleichbedeutend mit mehr Integration und mit der Aufgabe einer durchaus überlegten Zweideutigkeit hinsichtlich des europäischen Endziels.

Das Recht auf die Pleite

Wenigstens diskutieren die führenden Politiker über die richtigen Themen. Doch das Problem an den vielen neuen Ideen ist, dass sie die wesentlichen Fragen eher verschleiern als sie zu klären. Den Außenministern mag ja der Gedanke gefallen, mit einer europäischen Armee zu spielen, doch er steht wohl kaum im Mittelpunkt des Krisenmanagements. Ähnlich verfehlt auch Barrosos Bund von Nationalstaaten das Ziel. Er hebt den Standard des – unweigerlich umstrittenen – Föderalismus, ohne zu sagen, wie die Integration mit dem übrig bleibenden Rumpf der Nationalstaaten zu vereinbaren ist.

Die Eurozone bewegt sich auf das Schlimmste in beiden Welten zu – die Nationalstaaten fühlen sich durch die immer weiter greifenden Kontrollen Brüssels verletzt. Die europäische Ebene hingegen bleibt zu schwach und zu undurchsichtig, um Einfluss zu haben oder bei der Bevölkerung ein Zugehörigkeitsgefühl zu bewirken. Ein besserer Ansatz wäre es vielleicht, die vorgefassten Bezeichnungen beiseite zu legen und eine beschränkte Reihe von Kernfunktionen zu bestimmen, die verstärkt integriert werden müssen. Eine kohärente Bankenunion gibt Sinn, ebenso manche gemeinsame Anleihen.

Deutschland lehnt die Vergemeinschaftung der Schulden unter der Begründung ab, dass nicht einmal die USA von ihren Bundesstaaten eine gegenseitige Schuldenabsicherung erwarten.

Doch in den USA gibt es Bundesanleihen, abgesichert durch Bundessteuern, die durchaus eine sichere Anlage für alle Banken sind. Amerikanische Staaten gehen Bankrott, viele Banken ebenfalls. Man kann es nennen, wie man will: Integration, Zentralisierung, Föderation, Staatenbund – Ziel sollte es sein, das System genügend zu stabilisieren, damit schlecht geführte Banken und Staaten auf sichere Weise Pleite machen können.

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