Endre Tót : Zero Demo, Viersen, 1980, Performance-Fotografie; Courtesy des Autors

Wo Kunst politisch bleibt

Die in Paris gezeigte Ausstellung "Die Versprechen der Vergangenheit" zeigt, dass sich in beiden Teilen Europas das künstlerische Schaffen sowohl vor wie auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs weiter entwickelt, dabei aber den Ehrgeiz beibehält, die Welt ändern zu wollen.

Veröffentlicht am 18 Juni 2010 um 14:26
Endre Tót : Zero Demo, Viersen, 1980, Performance-Fotografie; Courtesy des Autors

"Im Osten Europas glauben die Leute noch, dass Kunst die Welt ändern kann." – das Zitat ist nicht ganz wortgetreu wiedergegeben, aber dieses Etikett, das den Zyklus albanischer Kunstwerke in Paris begleitet, lässt mir keine Ruhe. "Der Fall Tirana" ist ein separater Teil der Ausstellung "Die Versprechen der Vergangenheit" [Les Promesses du Passé], die seit April [bis zum 19. Juli] im Centre Georges Pompidou in Paris gezeigt wird. Edi Rama ist ein Künstler der westlichen Schule und heute Bürgermeister der albanischen Hauptstadt. Der Teil der Ausstellung ist dem vom ihm initiierten Projekt gewidmet, die harten Fassaden der Wohnblöcke seiner Stadt in farbenfrohe Kunstwerke umzuwandeln. Von allen gezeigten Werken ist dies allerdings das einzige, das später als 1990 entstand und klar seine Zielorientierung vom sozialen Wandel zeigt – und dennoch, jenseits des leicht verspielten Tons der Darstellung ist dieser Teil Europas, egal welchen Namen man ihm gibt, in Wahrheit aus künstlerischer Sicht zutiefst sozial und politisch.

Der Titel "Die Versprechen..." ist vom Werk des Schriftstellers Walter Benjamin inspiriert [für den sich die Vergangenheit in Schleifen auflöst und daher neu interpretiert werden muss]. Hier werden die Werke einer großen Anzahl von Künstlern des ehemaligen europäischen "Ostblocks" ausgestellt, von der Serbin Marina Abramović über den Rumänen Daniel Knorr – mit einer Installation, die extra für das "Pompidou" geschaffen wurde, die "Umleitung" eines Schlauches, durch den Tränengas fließt. Schläuche sind das architektonische Leitmotiv des Centre Pompidou, das von Renzo Piano und Richard Rogers entworfen wurde – bis hin zu den Werken des Rumänen Ion Grigorescu oder des Kroaten Mladen Stilinović. Die Franzosen Cyprien Gaillard und Yael Bartan gesellen sich dazu und behandeln "orientalisch-europäische" Themen, ohne dass sie aus dieser Region stammten.

Nach dem Eisernen Vorhang das Rad neu erfinden

Mit seinem futuristischen Gebäude in der Geschäftsregion der Pariser Altstadt ist das Centre Pompidou eine fulminante Kombination aus Touristenattraktion und revolutionärer Institution der visuellen Künste (das aber, wenn es ums Investieren geht, in die zeitgenössischen Klassiker investiert). In dieser komplexen musealen Landschaft versucht "Die Versprechen der Vergangenheit" wie im Katalog der Ausstellung als Titel des albanischen Kapitels beschrieben, "das Rad neu zu erfinden" und wendet sich der schwierigen bis unmöglichen Neudefinition von Kunst nach dem Eisernen Vorhang und dessen Integration zu, was vielleicht nicht unbedingt aus westlicher Sicht im westlichen Kanon geschieht. Dass es eine andere mögliche Sichtweise der "östlichen" Kunst gibt, beweist die Retro-Avantgarde, ein Konzept, durch das das Kollektiv *Neue Slowenische Kuns*t (NSK) seinen eigenen Kontext erfand und es ablehnte, zu versuchen, für sich eine mögliche Lücke im komplexen Schema des westlichen Kanons zu finden.

Mal als Block (kommunistisch und postkommunistisch) wahrgenommen, mal nach nationalen Kriterien ("Polnische Gegenwarten" wurde ebenfalls im Centre Pompidou 1983 ausgestellt), wird die mit dem östlichen Teil des Kontinents verbundene Kunst notwendiger- und konzeptuellerweise zeitweilig neu erfunden. Paradoxerweise ist es aus westlicher Sicht ausgerechnet die kommunistische Vergangenheit, die den gemeinsamen und einzigen thematischen Nenner geliefert hat: das Trauma, die Erinnerung, die (N)Ostalgie. Alles ist politisch, das sagen die Gebäude von Tirana. (sd)

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