Die Traum-Union des Eurobarometers

Meinungsumfragen verkünden stets eine massive Unterstützung der Menschen für die EU — wenn sie von der Kommission in Auftrag gegeben sind. Darüber könnte man schmunzeln, würde diese Vorgehensweise nicht die Kluft zwischen Bürgern und Politik noch größer machen.

Veröffentlicht am 9 Oktober 2012 um 10:23

In Brüssel lief mir jüngst eine der Macher des berühmten Eurobarometers über den Weg. So eine frische, junge, talentierte Europäerin, von denen es in Brüssel wimmelt. Ich fragte sie direkt, warum denn die Ergebnisse des Eurobarometers immer so pro-europäisch seien.

Die Ergebnisse des Eurobarometers spielen eine große Rolle. Zweimal jährlich wird im Auftrag der EU-Kommission die Stimmung der Öffentlichkeit in den EU-Ländern hinsichtlich Europas untersucht. Auf Vernissagen in Brüssel und Umgebung werden einem die Ergebnisse um die Ohren gehauen. „Sie können jetzt zwar sagen, dass es in den Niederlanden eine gewisse Enttäuschung über die EU gibt, aber 65 Prozent der Niederländer unterstützen voll und ganz die Strategie 2020 der Union.“ Ja was denn nun?

Ich habe einmal im Scherz gesagt, dass Europa unter Karl dem Großen mit mehr Fingerspitzengefühl regiert wurde, als unter den Eurokraten auf dem Brüsseler Olymp. Die denken nämlich, dass eine Meinungsumfrage ausreicht, um die Unterstützung für ihre megalomanen Pläne beurteilen zu können. Man kann von Karl dem Großen sagen, was man will, aber er hat wenigstens alle Länder seines Kaiserreichs bereist und sich stets woanders sein Lager aufgebaut.

Barrosos liebste Quelle

Meine Gesprächspartnerin gab nach ein paar Bierchen zu, dass die Ergebnisse des Eurobarometers immer Europa-freundlich dargestellt würden. Sie und ihre fünf Kollegen bekämen vorgefertigte Fragen von den verschiedenen Generaldirektionen und eine „Generaldirektion Kommunikation“ sorge dafür, dass der Ton der Präsentation des Eurobarometers immer angenehm europhil ausfalle.

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Ich musste an das Eurobarometer denken, als ich die jüngste Rede zur Lage der Union, die quasi Regierungserklärung des ungekrönten Königs Europas, EU-Kommissionschef José Manuel Barroso, unter die Augen bekam. Als ich die Vorschläge sah, dachte ich: entweder ist der Mann von einer an Wahnsinn grenzenden Überheblichkeit oder das Eurobarometer ist seine einzige Quelle.

Allein das kann erklären, warum José Manuel Barroso mitten in der größten Krise, die Europa je gekannt hat, mit voller Stimme die Arie der Schaffung einer europäischen Föderation anstimmt. Der Mann hat Nerven, wenn man bedenkt, dass die Menschen in Europa vom europäischen Projekt enttäuscht sind — beispielsweise, weil sich eine ganze Generation junger Menschen ohne Job durchschlagen muss.

In seiner Rede rumpelt Barroso durch das Ideal eines postnationalen Europas. Die Nationalstaaten müssten etwas Souveränität abgeben, um „das Ausmaß und die Effizienz zu erreichen, die wir als Global Player brauchen, um in einer sich wandelnden Welt bestehen zu können. Lassen Sie uns keine Angst vor dem Wort haben: Wir müssen uns hin zu einem Staatenbund der Nationalstaaten bewegen.“

„Minderheitsprojekt“ für Akademiker

Dieser feuchte Traum Brüssels ist nichts weiter als ein Putsch. Weder für eine vollwertige europäische Föderation noch für die „Vereinigten Staaten von Europa“ gibt es Flaggenträger. Nicht bei den nationalen politischen Eliten — man denke nur an die beklommene Stille in Den Haag, wenn es um die „Brüsseler Perspektiven“ geht —, geschweige denn bei der Bevölkerung, die dafür noch gar nicht reif ist.

Die Menschen wollen zwar keinen „Nexit“ à la Wilders [Chef der rechtpopulistischen Partei für Freiheit]. Die Niederländer wollen keinen Austritt aus der EU. Das haben die letzten Wahlen gezeigt. Aber die lakonische Selbstzerstörung der Niederlande wollen sie auch nicht. Ohne Panik machen zu wollen: Die Frage „Ist die EU-Mitgliedschaft für die Niederlande eine gute Sache?“ wurde bei der letzten Umfrage des Niederländischen Sozialforschungsinstituts SCP nur von 44 Prozent der Menschen bejaht.

Dramatisch ist die Aufteilung der Prozentsätze: 67 Prozent der Befragten mit höherer Ausbildung unterstützen die EU-Mitgliedschaft. Bei den Menschen mit mittlerem Bildungsniveau sind es 37 Prozent und bei den weniger Gebildeten nur 26 Prozent.

Hochgefährlich ist, dass José Manuel Barroso in seiner Rede den „pro-europäischen Kräften“ frontal alle „Nationalisten und Populisten“ gegenüberstellt. Er begeht absichtlich einen Putsch gegen die Menschen mit mittlerem und geringem Bildungsniveau und macht aus Europa ein „Minderheitsprojekt“ für Akademiker. Was er aber tatsächlich tut, ist das genaue Gegenteil: Er entfesselt die allergrößte denkbare politische Gegenreaktion auf das europäische Projekt. Lang lebe Europa!

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