Nachrichten Wohin steuert die Union / 7

Krise stellt Ost gegen West

Die Annährung von West- und Osteuropa wurde von der Wirtschaftskrise verlangsamt, vielleicht sogar gestoppt. Die Länder des ehemaligen Ostblocks müssen mit ansehen, wie die Werte, für die sie gekämpft haben, pervertiert werden. Der strauchelnde Kapitalismus bremst ihre Begeisterung für die liberale Demokratie, schreibt der bosnische Literaturwissenschaftler Predrag Matvejević.

Veröffentlicht am 1 Juli 2010 um 12:31

Es will den beiden Europas einfach nicht gelingen, sich näher zu kommen, und weniger noch sich zu vereinigen. Die Angst macht sich breit, dass die Zukunft der Vergangenheit gleichen könnte, einer Vergangenheit, die gar nicht so weit zurück liegt, das Schlimmste, an das wir uns mit Grauen erinnern. Zu Anfang des dritten Jahrtausends wurde Europa, Amerika und der Rest der Welt von den uns allseits bekannten Ereignissen überrumpelt. Kaum jemand in den sogenannten Ostblockstaaten hätte das vorausahnen können: Eine große zyklische Wirtschaftskrise, die sich immer weiter ausbreitet und banalisiert, eine der schlimmsten Krisen der letzten hundert Jahre, die sich zunehmend auf Wirtschaft und Gesellschaft in Ost und West auswirkt, die Politik und Kultur in Frage stellt und Situationen schafft, die uns unvorstellbar schienen.

Eine Sturmflut von Ereignissen, die wir weder kontrollieren, geschweige denn eindämmen können. Wer hätte vor nur zehn Jahren ahnen können, dass der Finanzkapitalismus den Kapitalismus selbst an den Rand des Abgrunds bringen würde? Dass dessen inhärenten oder offensichtlichen Widersprüche derart eklatant ans Tageslicht treten und ins Kreuzfeuer der Kritik treten würden? Ähnlich wie beim Neoliberalismus. Auch er ist heute gezwungen auf bestimmte Formen der Deregulierung zu verzichten, die ihm gestern noch unverzichtbar schienen, quasi sein Markenzeichen. Oder beim Bankensystem, das sich heute selbst bremsen muss. Oder wie bei einem großen Teil Europas, in dem Euroskeptizismus regiert.

Die Ärmsten unterstützen die Reichen

Länder, die gestern noch als antikapitalistisch galten, geben sich heute einem zügellosen Kapitalismus hin. In der Hoffnung den Arbeitsplatz zu erhalten oder einen zu bekommen, zwingt die Wirtschaftskrise die Ärmsten, jene zu unterstützen, die den Reichtum besitzen, dabei ist es egal, ob letztere dem konservativen oder linken Spektrum zuzuordnen sind. Was zählt ist, seinen normalen Lebensstandard zu sichern, und sei es auch nur dem Anschein nach.

Brecht schrieb: Was ist schon ein Einbruch gegen die Gründung einer Bank? Doch heute haben die meisten der kleinen Leute Angst und fragen sich, was geschähe, wenn ihre Bank pleitegehen würde und somit die Aktionäre/Teilhaber der Bank durch ihre wertlosen Papiere ruiniert würden. "Arbeit! Arbeit!" — lautet die immer gleiche Leier.

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Kritische Denker zur Einsamkeit verdammt

Wir erleben eine Umkehrung der Werte, an die die Menschen geglaubt und für die sie zahlreiche Opfer gebracht haben. Die Politik hat schon lange ihre bedeutendsten kulturellen Referenzen verloren. Sie vermeidet es überhaupt tunlichst, jedwede Form politischer Kultur zu fördern. Die Intellektuellen sind in alle Himmelsrichtungen verstreut. Jeder agiert für sich, in seiner Ecke, unter Seinesgleichen und strikt im Rahmen seiner Kompetenzen. Die Intellektuellen sind einsam und isoliert. Sie schaffen es nicht, sich zu einen und gemeinsam zu handeln. Von den Machthabern werden sie zumeist schlicht ignoriert und genötigt, in ihrer stillen Ecke zu verharren.

Bis auf ein paar Ausnahmen sind bei Entscheidungsprozessen die Stimmen der Intellektuellen in der Gesellschaft nie zu vernehmen. "Dissidenten" wie zu Zeiten der stalinistischen oder post-stalinistischen Regime, die Risiken auf sich nahmen, gibt es nicht mehr. Der kritische Denker ist zur Einsamkeit verdammt. Technologie mit verschiedenster Anwendungssoftware gibt den Anschein, als hätte sie die alte Kultur mit ihren überholten und obsoleten Methoden ersetzt, als wäre sie eine eigenständige Kultur nicht ein simples Derivat der alten. Ursachen und Folgen werden umgekehrt und man kann den Zusammenhang des einen mit dem anderen nicht mehr klar erkennen.

Der Westen ist seiner selbst müde

In diesem Zusammenhang sollte man auch den Rhythmus der Ereignisse hinterfragen. Wir haben gesehen, dass die Globalisierung gleitend, langsam schlängelnd voranschritt und regelmäßig Hindernisse und ein Gewirr von Misstrauen überwinden musste. Die Krise hingeben verbreitete sich rasch und ohne Umwege. In kürzester Zeit war der gesamte Planet betroffen. Ich frage mich, wie wir den Rhythmus des Geschehens in den Griff kriegen und in eine für die riesige Mehrheit der Bürger profitable Richtung lenken können. Man darf sich auch fragen, was passiert, wenn wir die Krise endgültig überwunden haben. Von wo aus wird es weitergehen? In welche Richtung werden die ersten Schritte gehen? Woher Vertrauen bekommen, um voran zu gehen?

Die Zeit, in der wir leben und in der uns die Probleme mit voller Wucht erwischen, ist voller Fragen und die Antworten sind selten. Und mit den Antworten, die wir hören und lesen, können wir uns nicht zufrieden geben. Nur selten machen sie uns Mut. Nach all dem, was unsere Zivilisation durchgemacht hat, sind wir nicht mehr so blauäugig. Wir sind kritischer und ironischer geworden. Das ist vielleicht einer der seltenen positiven Punkte in unserer mageren Bilanz. Und nicht nur im Osten. Ex oriente lux? Machen wir uns nichts vor. Der Westen ist seiner selbst müde. Regungslos starrt er weiterhin auf sein Schicksal. Vielleicht soll das so sein. (js)

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