"Konnte Shakespeare sich erlauben, / in Desdemonas Schneuztuch zu schnauben, / so möchte auch ich mit dem Stier kämpfen, der Europa entführte, / ihn zu Boden bringen, indem ich ihm meinen Kugelschreiber mit der unsichtbaren Tinte zwischen die Hörner stoße." So beginnt Paragraph 44 der "[Europäischen Verfassung in Versen](http://www.constitutioneuropeenneenvers.com/)". Das Werk wurde bisher in drei Sprachen veröffentlicht und in Barcelona, Brüssel und Prag vorgestellt. Der rumänische Lyriker Mircea Dinescu unterstützt mit Ironie und Humor das Recht auf Verkehrsfreiheit innerhalb der Europäischen Union und ermutigt zu einer Freiheit, die über die religiösen oder kulturellen Unterschiede zwischen den europäischen Bürgern hinauswächst.
Der Paragraph 44 handelt vom Recht auf „Zweckehe“ und gehört zum Kapitel über die "Grundrechte" des europäischen Bürgers. Etwas weiter kann man lesen: "Das Mädchen aus Eigennutz heiraten dürfen, / problemlos die französische, belgische oder deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, / wie der Gauner, den ich vor 20 Jahren im Zug nach Nowosibirsk kennen lernte / und der davon träumte, in den wilden Osten bis nach Israel zu fliehen, / durch seine Ehe mit einer alten Jüdin, / denn er sah die Frau nicht als Luxus sondern als Transportmittel, / ohne christliche Komplexe / und in Anbetracht der Tatsache, dass letztendlich / sogar Jesus die Frucht einer Dreierbeziehung ist."
Während die Ratifizierung der europäischen Verfassung aufgrund ihrer Ablehnung durch bestimmte Mitgliedstaaten nur schleppend vorangeht, scheinen Europas Poeten eine Avantgarde-Rolle zu spielen und die "Lösung" für ein einiges Europa gefunden zu haben.
Das Projekt der "Europäischen Verfassung in Versen" wurde 2008 von einer Gruppe belgischer Künstler unter dem Namen "Kollektiv Brüsseler Poeten" gestartet, im Rahmen des [Passaporta](http://www.passaporta.be/index.php?q=passaporta/fr/accueil)-Programms.Sie schickten eine erste Fassung der poetischen Verfassung an Autoren in ganz Europa – fünfzig aus Europa stammende Lyriker, vom irischen Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney bis hin zu Eva Cox, der in Australien lebenden österreichischen Autorin.
Das Resultat ist ein fast hundert Seiten langer Text, der nicht nur den europäischen Gedanken widergibt, sondern symbolisch auch die Probleme, mit denen die EU konfrontiert ist.
Jeder Autor hat seinen Beitrag in seiner eigenen Sprache verfasst, und die Initiatoren des Projekts haben unter Koordination von David Van Reybrouck und Peter Vermeersch die Texte dann neu "abgemischt".
Was die eventuellen sozialen Auswirkungen der "Europäischen Verfassung in Versen" betrifft – im Kontext der Diskussionen über die "Vereinigung“ Europas durch die Poesie" – so ist Mircea Dinescu eher skeptisch: "Ich habe diesen Text gewählt, weil er vom alten Thema des Barbaren aus dem Osten handelt, des Homo Esticus. Wir leben alle im wilden Osten. Das ist eine bittere Feststellung. Die Dichter sind schon lange nicht mehr die Stimme der Stadt. Früher war die Poesie eine Waffe, zumindest in der kommunistischen Welt. Die Angst vor den Worten, vor den Anspielungen, zeigte eine Wirkung. Heute, im Kapitalismus, ist der Dichter nur noch ein Possenreißer, da darf man sich nichts vormachen."
Der Text umfasst acht Kapitel, die wiederum in Paragraphen unterteilt sind. Seine Untertitel basieren auf den Titeln der Verfassung, wie zum Beispiel "Grundsätze", "Grundrechte", "Verfassung" oder "Europäische Hymne". Bis heute wurde er ins Französische, ins Englische und ins Niederländische übersetzt, weitere Sprachen sollen folgen. Auszüge aus der "Europäischen Verfassung in Versen" sind auf der Website des Projekts zu finden.