Lisbeth Salander, Heldin der Trilogie, dargestellt von Noomi Rapace.

Millenniums Zerrspiegel

Gibt es die schwedischen Sozialdemokraten noch oder wurden sie endgültig durch die Millenium-Trilogie ausgelöscht, die eine korrupte, düstere und gewalttätige Gesellschaft beschreibt? Stieg Larssons Biograph hat diese Frage zwei anderen schwedischen Meistern des Krimis gestellt.

Veröffentlicht am 6 Juli 2010 um 10:57
Lisbeth Salander, Heldin der Trilogie, dargestellt von Noomi Rapace.

Hat der Durchschnittsbrite ein veraltetes, stereotypes Bild von Schweden? Leider ja. Dies habe ich herausfinden müssen, als ich ein Buch über einen Mann schrieb, den ich nie persönlich getroffen habe. Bevor er viel zu früh mit 50 Jahren von uns ging, hat Stieg Larsson 2004 eine außergewöhnliche Krimi-Trilogie [Millennium] verfasst, dessen erster Band den Titel Männer, die Frauen hassen [dt. Titel: Verblendung] trägt. Die drei Bücher schlagen in ihren verschiedenen Übersetzungen weltweit immer noch alle Verkaufsrekorde.

Wenn ich während meiner Recherchen für das Buch bei britischen Autoren das Leben und die Arbeit von Stieg Larsson erwähnte, kam jedes Mal das gleiche Bild von Schweden zum Vorschein: Schweden ist das Land von IKEA, Fußballtrainern, Abba und absoluter sexueller Freiheit; wobei die letzte Assoziation immer von einem neidischen Lächeln begleitet wurde. Andere Nicht-Schweden zeigten mir aber auch ein intellektuell ehrbareres Stereotyp von einem Land, das für Ingmar Bergman und seine Sozialdemokratie bewundert wird.

Paranoides Schwedenbild

Vor kurzem wurde ich zu einem Kolloquium zum Thema "Stieg Larsson und die schwedische Krimi-Literatur" eingeladen, bei welchem der Botschafter den Vorsitz hatte. Unter den anwesenden prominenten Kollegen befand sich einer der größten nordischen Krimiautoren, der sehr große Håkan Nesser, Schöpfer der Figur des Kommissars Van Veeteren, sowie Johan Theorin, der mit dem beängstigenden Skummtimmen [Öland] letztes Jahr den renommierten Dagger Award der Crime Writers Association gewann und Eva Gedin, Verlegerin von Stieg Larsson. Auf der Bühne war es heiß und stickig, aber die Temperatur stieg noch mehr an, als deutlich wurde, dass das sehr dunkle Bild von Schweden wie es in den Werken Stieg Larssons geschildert wird, weitgehend angefochten wurde (hier lässt die Korruption keine einzige Machtschicht aus; von der Justiz, der Polizei über den Geheimdienst bis hin zu den Psychiatrien).

Stieg Larssons Blick eröffnet dem ausländischen Leser ein negatives und völlig neues Bild von Schweden. "Stieg Larssons Schweden hat mit dem Schweden, das ich kenne, nichts gemein", versetzt Håkan Nesser. "Aber immer, wenn man etwas unter die Oberfläche schaut, wird es früher oder später düster. Egal, in welchem Boden oder welchem Land man gräbt". Stimmt er mit der paranoiden Sichtweise Schwedens von Stieg Larsson also nicht überein? "So würde ich das nicht ausdrücken. Meiner Meinung nach hat sich Stieg beim Schreiben seiner Bücher gewisse künstlerische Freiheiten herausgenommen. Andererseits war er mehr in die geheimsten Winkel der schwedischen Gesellschaft involviert als ich, dort, wo die höchstgeschätzten und mächtigsten Personen gleichzeitig auch die schlimmsten Gangster sind". Er lächelt. "Und natürlich ist es amüsant, Verschwörungstheorien zu lesen, das ist die Gegenwehr des Armen. Man sieht doch gerne den sozialen Abstieg eines Nachbarn, der Geld wie Heu hat, oder?"

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Larsson nahm die Machenschaften des Staates unter die Lupe

Gelassener als Nesser zeigt Johan Theorin mehr Wohlwollen für das Schweden von Stieg Larsson. "Die Charakterzüge der Hauptpersonen, die Sexualität und die Gewalt sind natürlich überzogen. Ich habe schon Gelegenheit gehabt, Leute kennenzulernen, die einen ein bisschen an Mikael Blomkvist erinnern [Der Journalist, der die Hauptperson der Saga ist], aber ich habe noch nie in Schweden von jemandem so schauerlichen wie Lisbeth Salander gehört [die andere Hauptperson, eine geniale, autistische, extrem gewalttätige junge Frau]".

Der Schriftsteller lächelt und fährt fort: "Der Schriftsteller Anthony Burgess vertrat die Theorie, dass die Skandinavier weltweit das Volk seien, das es mit den Regeln am genausten nimmt. Und er war überall gewesen, er wusste also, wovon er sprach. Er verband dies mit der Tatsache, dass die Skandinavier nicht an Gott glauben!" "Die Schweden verlassen sich bereitwillig auf die anderen, und man verlässt sich gern auf sie. Stieg Larsson gehörte aber zu der Art von Presse, die ohne Unterlass die Machenschaften des Staates unter die Lupe nimmt, daher hat er sich vielleicht auf die kleinen Fehler der Politiker konzentriert, anstelle zu sehen, dass alles in allem eher gut funktioniert".

Das sozialdemokratische Ideal existiert - im Wahljahr

Ich wage es, eine weitere Frage zu stellen: Das sozialdemokratische Ideal klingt in den Werken Stieg Larssons leicht hohl, aber existiert es in der realen Welt noch? Johan Theorin zögert. "Dies Jahr ist ein Wahljahr und wir werden im September eine neue Regierung wählen. In solchen Jahren kommt das sozialdemokratische Ideal wieder zum Vorschein. Dabei sollte man zugestehen, dass Schweden generell im Großen und Ganzen ein sehr gerechtes Land ist, in dem alle Zugang zur Gesundheitsversorgung und dem höheren Bildungsweg haben. Gleichzeitig ist deutlich, dass Schweden ein kapitalistisches europäisches Land wie die anderen geworden ist."

Als ich Håkan Nesser und Johan Theorin frage, ob die Schweden stolz auf Stieg Larsson sind, lächelt Håkan Nesser sein berühmtes gezwungenes Lächeln und antwortet: "Ja, aber die Leute werden immer einen linken Krimiautoren wie Stieg mögen. Und außerdem ist die Masse auch stolz auf die Gruppe Abba, was weitaus schlimmer ist". (sd)

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