Treffpunkt für junge Ausländer in Brüssel: der Place du Châtelain im Stadtteil Ixelles

Brüssel: Der 21. Pariser Stadtbezirk?

Nicht nur der Milliardär Bernard Arnault hat sich dazu entschieden, Frankreich den Rücken zu kehren, um sich in Belgien niederzulassen. Aufgrund der Attraktivität des dortigen Arbeitsmarktes und der besseren Lebensbedingungen entscheiden sich auch Tausende junger französischer Akademiker jedes Jahr für das belgische Exil.

Veröffentlicht am 18 Oktober 2012 um 11:59
Treffpunkt für junge Ausländer in Brüssel: der Place du Châtelain im Stadtteil Ixelles

Bernard Arnault will nach Belgien auswandern? Da ist er wohl nicht der Einzige. Auf nach Brüssel wollen auch nicht ganz so vermögende Franzosen mit ein paar Jährchen weniger auf dem Rücken. Und im Gegensatz zum „reichsten Mann Frankreichs“ wandern sie mit dem festen Vorsatz aus, ihre Steuern zu bezahlen, sobald sie dort Arbeit gefunden haben.

„Immer mehr junge Franzosen spielen mit dem Gedanken, ins Ausland zu gehen, um ihr berufliches Leben zu beginnen. Ganz oben auf der Liste steht das frankophone Belgien“, erklärt Éric Verhaeghe. Für den Autor des Buches Faut-il quitter la France?[Muss man Frankreich verlassen?] „bietet der französische Arbeitsmarkt immer weniger Anreize für sie“.

Flucht aus Paris

Die Zahl der Franzosen, die sich in der Region um die Hauptstadt Brüssel niederlassen, steigt kontinuierlich. Im Jahr 2010 waren es laut dem Brüsseler Statistik- undAnalyseinstitutIBSA 50.000. Zehn Jahre zuvor lag diese Zahl noch bei 34.000. 2011 stieg die Zahl der Franzosen, die sich in Belgien anmeldeten, um 8,1 Prozent an – nach der Schweiz und Großbritannien der drittstärkste Zuwachs in Westeuropa. In dieser Diaspora stellen Steuernomaden eine Minderheit dar: Nur etwa zwei Prozent der ca. 250.000 Franzosen in Belgien sind darunter zu zählen.

Wie aber steht es um junge Akademiker? „Es wird noch eine Weile dauern, bis dieses Phänomen auch in den Statistiken sichtbar wird“, räumt Éric Verhaeghe ein. Es gibt zwar keine Zahlen, aber die Migration französischer Studenten nach Belgien „nahm mit der Europäischen Konstruktion und Programmen wie Erasmus logischerweise zu. Und auch die Einheitswährung hat dazu beigetragen. Die Zahl französischer Studenten in Belgien hat sich seither verdoppelt und beträgt in Boomjahren bis zu 10.000 Studenten“. Belgiens Regierung versuchte sogar, diesen Studentenstrom mit allerlei Maßnahmen einzudämmen. Allerdings wurden diese Einschränkungen aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht 2009 wieder aufgehoben.

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Zudem existiert ein anderer Mobilitätstyp rein beruflicher Natur, der beweist, wie dynamisch die franko-belgische Achse ist: Dabei handelt es sich um VIE, das größte internationale Freiwilligenprogramm für junge Menschen zwischen 18 und 28 Jahren. Für junge Franzosen „ist Belgien (nach Großbritannien und Deutschland) in Europa das VIE-Ziel Nummer drei, weltweit Nummer fünf“, betont Ubifrance.

Kein Schlaraffenland, aber...

Was diese jungen Hochschulabgänger verscheucht? Ihre Situation in Frankreich. Entweder sind sie ihre prekäre Situation auf dem Arbeitsmarkt leid oder sie fürchten sich vor dieser. Außerdem haben sie Lust auf etwas Neues, auf ein anderes Land, das sich ihnen zudem noch als ganz besonders einladend präsentiert.

Es geht ihnen darum, vor einem Arbeitsmarkt zu flüchten, der feindselig und hermetisch verriegelt scheint. So sieht es auch die 25jährigen Louise, die einen Abschluss Politikwissenschaften hat. Nachdem sie ihr Glück logischerweise in Paris zunächst versucht hat – eine „anstrengende Erfahrung“, die sie als „Metro-Arbeit-Schlafen“-Kreislauf beschreibt, und bei der „besonders auf junge Arbeitnehmer viel Druck ausgeübt wird“ – zog es sie nach Brüssel: „Donnerstag der Umzug. Freitag Unterschreiben des Arbeitsvertrages. Es ging alles sehr schnell.“

Ein zugänglicherer Arbeitsmarkt? „In Sachen Jobangebote hat Belgien es unter die fünf Top-Länder der EU geschafft“, erzählt ein Angestellter der nationalen Arbeitsagentur. Ganz besonders betrifft das diejenigen, die zahlreiche Diplome haben. In einigen Bereichen aber ist der Einstieg ins Berufsleben genauso schwierig wie in Frankreich.

Ein weiteres Kriterium: In der Anfangsphase ist alles viel flexibler und zugänglicher. Das kann auch die 27jährige Ninon bezeugen, die ihr Industriedesign-Studium erfolgreich in Paris abgeschlossen hat und seit einem Jahr in Brüssel lebt. „Ich habe in Paris Arbeit gesucht. Aber das war wirklich entsetzlich schwer. Da habe ich es mit Praktika versucht. Aber irgendwann ging das nicht mehr, weil ich ja keine Studentin mehr war. Nach sechs Monaten habe ich mich dann für Brüssel entschieden. Hier sind alle viel flexibler.

Das Leben als Praktikantin bedeutet natürlich nicht, dass sie im Schlaraffenland lebt (es gibt wenig Geld und der Vertrag ist zeitlich befristet), aber in Brüssel ähnelt ein Praktikum wenigstens... einem Praktikum, und nicht „einem verdeckten Arbeitsverhältnis wie in Paris“: „Man kann hier ganz ohne Erfahrung anfangen. Man ist einfach da, um zu lernen. Und schnell arbeitet man bei interessanten Projekten mit. In Paris muss man dagegen erst einmal eine Nummer ziehen und warten, bis man irgendwann aufgerufen wird und bei einem tollen Auftrag mitmachen darf.“

Niedrige Mieten, hohe Lebensqualität

Zudem scheint es einfacher, ein berufliches Netzwerk aufzubauen. Im Großen und Ganzen bleibt die Festanstellung zwar so etwas wie der Heilige Gral, aber man kann sich anscheinend viel einfacher seine Karriere zusammenbasteln: „In der Design-Branche wagen hier beispielsweise viel mehr Leute den Sprung ins kalte Wasser als in Paris“, erklärt Ninon.

Ferner hat Brüssel für zahlreiche Berufsbilder Karrierechancen zu bieten. Für die 26jährige Sophie, die gerade ihr Studium im Bereich Öffentliches Gesundheits- und Umweltwesen an der École des hautes études en santé publique (EHESP) abgeschlossen hat, ist es so etwas wie ein Initiationsritus: „80 Prozent des Umweltrechts erblicken dort das Licht der Welt. Da muss man seine Nase schon einmal hineingesteckt haben – und sei es nur für das Netzwerk.“

In Brüssel lastet zudem nicht so ein enormer wirtschaftlicher Druck auf den Menschen. Laut einer internationalen Studie zu den Lebenshaltungskosten, die Mercer 2011 durchgeführt hat, befindet sich die Stadt auf Rang 62, noch hinter Bratislava oder Athen. Paris steht auf Platz 27. Darüber hinaus ist für viele Auswanderer auch die Wohnsituation ausschlaggebend. Auf der EU-Rangliste der Städte mit den teuersten Mieten steht Paris auf Platz 6, Brüssel auf Platz 26. „Für 380 Euro Miete lebe ich hier in einer Wohngemeinschaft mit Garten, Hühnern und Gemüsebeeten!“, erklärt Ninon. Und „nur fünf Minuten von Flagey entfernt, dem jungen, hippen Multikultiviertel.“ Zu diesem Preis kann man sich in Paris meist nicht einmal eine Einraumwohnung leisten...

Der Job ist das Ziel, Wohnung und Lebenshaltungskosten die Gelegenheit. Und die Krönung des Ganzen: Als Auswanderer ist die Lebensqualität spürbar höher. Schwach besiedelte Gegenden, Grünflächen, eine im Vergleich zu Paris viel zugänglichere und weniger elitäre Kultur.

Die Belgier sind dieser Migration gegenüber recht aufgeschlossen und genießen einen sehr guten Ruf. Allerdings beschweren sie sich schon regelmäßig über die Franzosen, die die Preise in die Höhe treiben – besonders Pariser sind nicht sonderlich beliebt... Sie sind ja auch nicht auf den Kopf gefallen, diese Belgier.

Steuersystem

Kapitalflucht aus Belgien

Während sich die einen in Belgien niederlassen, ergreifen andere die Flucht. Darunter befinden sich mehrere multinationale Konzerne, die befürchten, „ihre steuerlichen Vorteile einzubüßen“, berichtet Le Monde.

Da ist beispielsweise der Stahlkonzern Arcelor Mittal, der „37 Milliarden Euro aus seiner internen Bank mit Firmensitz in Belgien abzog“ und einen Großteil davon nach Luxemburg fließen lassen wird. Aber auch der niederländische Elektronikkonzern Philips und das finnische Energieunternehmen Fortum haben ihr Kapital in die Heimat zurückgeführt. Für Le Monde könnten diese Entscheidungen…

„etwas mit den Ermittlungen zu tun haben, die von der Steuersonderprüfungsbehörde in Auftrag gegeben wurden. Die Ermittler stützen sich auf die sogenannten neuen ‚Anti-Rechtsmissbrauch-Bestimmungen’, die rein finanzielle Geschäfte, Buchungsspielchen und andere Kunstgriffe verbieten, mit denen Steuern gesenkt werden. [...] Seit Ende 2011 fällt der rein rechnerische Anteil des fiktiven Zinsabzugs zudem etwas weniger günstig aus. All diese Veränderungen hätten in der Finanzwelt für Ungewissheit gesorgt.“

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