Photo: Shahram Sharif

Zeit für die Wiederbezauberung der Welt

Mehr Platz für die Liebe, die Solidarität und die Poesie: In seiner Pressetribüne in Le Monde, ruft der französische Soziologe und Philosoph Edgar Morin die Zivilisation dazu auf, ihre eigene Metamorphose einzuleiten. Nur eine politische Ökologie sei fähig, so meint er, ein solches Vorhaben zu tragen.

Veröffentlicht am 16 Juni 2009 um 15:18
Photo: Shahram Sharif

Der Erfolg der Grünen bei der Europawahl in Frankreich darf weder über- noch unterbewertet werden. Nicht überbewertet, denn er ergibt sich zum Teil aus der Unzulänglichkeit der sozialistischen Partei und der geringen Glaubwürdigkeit des MoDem und der kleineren Linksparteien. Und nicht unterbewertet, denn er zeugt auch vom politischen Fortschritt des Umweltbewusstseins in unserem Land.

Was jedoch unzureichend bleibt, ist ein Bewusstsein für das Verhältnis von Politik und Umwelt. Die Probleme der Justiz, des Staats, der Egalität, der sozialen Beziehungen entziehen sich dem Umweltbereich. Eine Politik, die die Umwelt nicht mit einschließt, wäre unvollständig, doch eine Politik, die sich nur auf sie beschränkt, wäre ebenfalls unvollständig.

Der Standpunkt des "über der Natur stehenden" Menschen wurde noch nicht durch den Standpunkt einer komplexen wechselseitigen Abhängigkeit von Mensch und lebender Natur ersetzt, bei dem der Tod der Natur auch unseren eigenen Tod bedingt.

Jede Umweltpolitik hat zwei Seiten, von denen die eine auf die Natur und die andere auf die Gesellschaft gerichtet ist. So rührt eine Politik, die umweltverschmutzende fossile Energien durch saubere Energiequellen ersetzen will, zugleich an Gesundheit, Hygiene und Lebensqualität. Eine Politik des Energiesparens kämpft zugleich gegen die Seuche des Konsumrauschs der Mittelklasse an. Eine Politik, die durch Förderung von elektrischen öffentlichen Verkehrsmitteln die Städte entgiften und die historischen Stadtzentren zu reinen Fußgängerzonen machen will, würde in starkem Maße zu einer Rehumanisierung der Städte beitragen und zudem durch die Beseitigung sozialer Ghettos, u.a. der Luxusghettos für Privilegierte, auch die soziale Durchmischung wieder einführen.

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In der zweiten Seite der Umweltpolitik steckt also schon eine wirtschaftliche und soziale Komponente. In ihr steckt auch etwas tieferes, das noch in keinem politischen Programm zu finden ist, nämlich die positive Notwendigkeit, unser Leben zu ändern, nicht nur im Hinblick auf eine Mäßigung, sondern vor allem im Hinblick auf die Qualität unseres Lebens und auf seine Poesie.

Doch diese zweite Seite ist in der Umweltpolitik noch nicht ausgeprägt genug.

Zunächst wurde die zweite, de facto ergänzende Botschaft noch nicht verinnerlicht, die zu Beginn der 1970er Jahre etwa zeitgleich mit dem Umweltbewusstsein ausformuliert wurde, nämlich die These von Ivan Illich. Illich zeigte in seiner Zivilisationskritik, wie mit den Fortschritten unseres materiellen Wohls auch ein psychisches Unbehagen einhergeht. Das psychische Unbehagen war und ist heute noch verbunden mit der Medizin, mit Schlafmitteln, Antidepressiva, Psychotherapien, Psychoanalysen, Gurus, doch es wird nicht als Auswirkung der Zivilisation wahrgenommen.

Die Berechnung, die in allen Aspekten des menschlichen Lebens eingesetzt wird, verdeckt das, was nicht berechnet werden kann, also Leiden, Glück, Freude, Liebe, kurz, alles was in unseren Leben wichtig ist und scheinbar nicht zum Sozialen, sondern zum rein Privaten gehört. Alle erwogenen Lösungen sind quantitativ: Wirtschaftswachstum, Steigerung des Bruttosozialprodukts. Wann wird die Politik den immensen Liebesbedarf der im Kosmos herumirrenden Menschheit berücksichtigen?

Eine Politik, bei welcher die Umwelt in das Gesamtproblem des Menschen integriert würde, befasste sich dann mit den im Vergleich zu den positiven Effekten immer bedeutender werdenden negativen Effekten der Entwicklung unserer Zivilisation, darunter auch mit dem Verfall der Solidaritäten, und dies gäbe uns zu verstehen, dass die Einrichtung neuer Solidaritäten ein wesentlicher Aspekt einer Zivilisationspolitik ist.

So könnte die Umweltpolitik in einer großen regenerierten Politik aufgehen und zu ihrer Regenerierung beitragen.

So wie die Umweltpolitik ihre Wahrheiten und ihre Unzulänglichkeiten trägt, so tragen auch die Linksparteien, jede auf ihre eigene Art, ihre Wahrheiten, ihre Irrtümer und ihre Defekte. Sie alle sollten sich auflösen und in einer regenerierten politischen Kraft neu zusammensetzen, die neue Wege erschließen könnte. Der wirtschaftliche Weg wäre ein "plurales" Konzept der Ökonomie. Der soziale Weg wäre der Rückschritt der Ungleichheiten, die Entbürokratisierung der öffentlichen und privaten Organisationen, der Aufbau von Solidaritäten.

Der existenzielle Weg wäre eine Reform des Lebens, bei welcher das bewusst würde, was jeder insgeheim fühlt, nämlich dass Liebe und Verständnis die kostbarsten Güter des Menschen sind und dass es wichtig ist, auf poetische Weise zu leben, also sich im Miteinander und mit Leidenschaft selbst entfalten zu können.

Und wenn es tatsächlich so ist, dass der Lauf unserer global gewordenen Zivilisation in den Abgrund führt und dass wir einen anderen Weg einschlagen müssen, dann müssten alle diese neuen Wege zusammenführen können und einen großen Weg bilden, der, besser noch als zu einer Revolution, zu einer tief greifenden Wandlung führte. Wir stehen noch nicht einmal am Anfang der politischen Regenerierung. Doch die Umweltpolitik könnte dem Anfang des Anfangs den ersten Schwung geben.

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