Der britische Premier David Cameron (Fotomontage)

Tories spielen mit der Brüssel-Bombe

Euroskepsis ist bei den britischen Konservativen zur Mode geworden. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit eines Referendums über die weitere Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU. Doch wissen Premier David Cameron und seine EU-feindlichen Minister eigentlich überhaupt, wohin die Reise gehen soll?

Veröffentlicht am 22 Oktober 2012 um 13:12
Der britische Premier David Cameron (Fotomontage)

Als David Cameron vor sieben Jahren den Parteivorsitz der Tories übernahm, soll William Hague eine eindringliche Warnung zum Thema Europa ausgesprochen haben. Man müsse sich davon fernhalten, so empfahl Hague, der als Parteichef der Konservativen (von Juni 1997 bis September 2001) schmerzhaft am eigenen Leib erfahren hatte, welcher Schaden sonst entstehen kann. Hague fügte hinzu, man müsse Europa als Bombe betrachten, die niemals entschärft werden, aber jederzeit losgehen könne. Das Klügste sei, es wohlweislich zu ignorieren und auf das Beste zu hoffen.

Cameron nahm diese Worte zur Kenntnis. In der Opposition tat er sein Bestes, um Ärger abzuwenden und war während seiner Anfangszeit in der Regierung fast übermäßig vorsichtig. Europa war bei den Verhandlungen über das Koalitionsabkommen das einfachste Kapitel gewesen, da Cameron seine „eiserne Garantie“ für eine Volksbefragung zum Vertrag von Lissabon bereits zuvor aufgegeben hatte. Mit nur einer – zugegeben sehr dramatischen – Ausnahme, als seine Regierung gegen den Vertrag vom vergangenen Dezember ihr Veto einlegte, konzentrierte er sich auf weniger gefährliche Themen.

Doch nun ist deutlich geworden, dass die Hague-Doktrin sieben Jahre nach der Warnung des Außenministers plötzlich nicht mehr befolgt wird. In den letzten Tagen äußerten mehrere Minister des Kabinetts europafeindliche Ansichten – ohne das Wissen geschweige denn die Zustimmung des irritierten Hague. Den Anfang machte Innenministerin Theresa May, die nun als potentielle Parteichefin der Konservativen gehandelt wird. Während des Parteitags vom 7. bis zum 10. Oktober nahm sie es mit einer der wesentlichsten Orthodoxien der Europäischen Union auf: Sie versprach, den freien Personenverkehr zwischen den EU-Mitgliedsstaaten anzufechten. Wie sie das genau tun will, wurde nicht erläutert.

Beziehungen zu Europa „auf Null“

Am 16. Oktober kritisierte May Brüssel erneut, diesmal indem sie Zweifel am Europäischen Haftbefehl äußerte. Einen Verbündeten fand sie in Verteidigungsminister Philip Hammond, der kürzlich die Beziehung zwischen Großbritannien und Europa wieder „auf Null setzen“ wollte.

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Doch der bis jetzt bedeutungsvollste Beitrag zur Debatte kam von Michael Gove. Der britische Bildungsminister gab bekannt, dass er, falls es morgen ein Referendum über die Europäische Union gäbe, für den Austritt der Briten stimmen würde.

Die Bedeutsamkeit dieser Bemerkungen kann gar nicht überbewertet werden. Obwohl schon viele Europa kritisierten, hatte es seit dem ehemaligen Parteichef der Labour-Partei, Michael Foot, vor über 25 Jahren kein britischer Spitzenpolitiker tatsächlich wieder gewagt, für eine Aufkündigung der britisch-europäischen Beziehungen einzutreten. Seit Foots Blamage bei den Parlamentswahlen 1983 waren sich alle führenden Politiker der drei großen Parteien darin einig, dass die britische Mitgliedschaft in der EU in der Praxis zwar ärgerlich sein mag, vom Prinzip her jedoch eine gute Sache ist.

Goves Aussage, wäre schon dann von größter Bedeutung, wenn er damit alleine wäre. Doch Berichten zufolge wird er von rund der Hälfte der konservativen Kabinettsmitglieder unterstützt. Tatsächlich besteht sogar Grund zur Annahme, dass Gove, der ein enger Freund der Familie des Premierministers ist, als Vorreiter für Cameron handeln könnte.

Somit ist klar, dass die Tories an einem Wendepunkt angelangt sind. Cameron hat beschlossen, die Explosion der europäischen Bombe zu riskieren, in voller Kenntnis der Folgen. Auf den ersten Blick sieht das nach purem Irrsinn aus. Warum hat sich der Premierminister also für eine so gefährliche Vorgehensweise entschieden?

Radikalisierung der Minister

Der erste Grund dafür ist die Radikalisierung britischer Minister in Europafragen. Gove zum Beispiel musste feststellen, dass die Richtlinien aus Brüssel es ihm erschweren, schlechte Schulleiter aus britischen Schulen hinauszuwerfen. Der Minister für Arbeit und Pensionen, Iain Duncan Smith, macht ähnliche Erfahrungen, seitdem er die Reformen des Wohlfahrtsstaats in Angriff genommen hat. Fast jeder Minister kann dazu seine eigene Geschichte erzählen.

Der zweite Grund betrifft die euroskeptische UK Independence Party (Ukip). So wie die rechtsextreme British National Party (BNP) hauptsächlich von ehemaligen Labour-Wählern gestützt wird, ist die Ukip eine Art exilierte Conservative Party. Die Strategen der Tories befürchten, die Ukip könne in den Europawahlen von 2014 auf den ersten Platz kommen und die Konservativen auf den dritten Rang verdrängen. Natürlich würde die Ukip in einer Parlamentswahl nicht mit solch einem umwerfenden Erfolg abschneiden. Doch sie könnte die konservativen Stimmen um etliche Prozentpunkte beschneiden, Cameron um den Sieg bringen und die Tories viele Sitze kosten.

Der Premierminister muss sich zudem auch mit starken Emotionen innerhalb seiner Partei auseinandersetzen. Es ist noch kein Jahr her, dass 81 Abgeordnete den Fraktionschefs an der Regierung dahingehend die Stirn boten, dass ein EU-Referendum einberufen werden sollte: die bisher größte Rebellion zum Thema Europa. Seither haben sich die Fronten noch verhärtet und in den nächsten Monaten wird eine neue Reihe von Euro-Abstimmungen erwartet, darunter auch eine über die neue Bankenunion.

Das blutige Ende vermeiden

Der vierte Grund ist der wichtigste. Es hat einen Stimmungswandel gegeben. Viele konservative Minister sind heute tatsächlich davon überzeugt, dass Großbritanniens Zukunft außerhalb der Europäischen Union liegt. Sie machen das antieuropäische Trara nicht nur aus taktischen Gründen im Zusammenhang mit der Ukip und mit der Parlamentsleitung, oder um ihre persönliche Beliebtheit zu steigern. Sie tun es aus tiefer Überzeugung.

Das hat eine enorme Tragweite, wenn man bedenkt, dass fast auf den Tag genau vor 20 Jahren die Maastricht-Revolte von John Major ihren Höhepunkt erreichte. Damals wirkten die Rebellen wie eine Randgruppe. Die etablierte Conservative Party unterstützte die britische Mitgliedschaft in der EU. Hätte ein Kabinettsmitglied damals Bemerkungen gemacht wie heute Michael Gove, hätte die betroffene Person zurücktreten müssen. Doch wie es aussieht, wurde Gove nicht zum Widerruf aufgefordert, von einem Rücktritt ganz zu schweigen.

Eine zentraler Frage ist bislang noch ungeklärt. Bis jetzt ist die aktuelle Welle europafeindlicher Stellungnahmen nämlich nur Phrasendrescherei. Und falls das so bleibt, wird sie Hoffnungen wecken und diese nicht erfüllen, was als Verrat empfunden werden wird.

Ich glaube jedoch, dass der Bildungsminister und seine Anhänger im Kabinett ernsthaft versuchen wollen, Großbritannien aus der Europäischen Union herauszulösen. Das ist gewagt und sehr ernst zu nehmen. Ich hoffe, sie wissen, was sie tun. Wenn sie es nicht wissen und die metaphorische Bombe des Außenministers hochgeht, dann könnte das alles sehr blutig und schrecklich enden.

Europäische Meinung

Wenn Großbritannien gehen will, hier ist die Tür

Die britische Regierung denkt über einen „Brexit“ – einen britischen Austritt (= Exit) aus der Europäischen Union – nach. Doch die europäischen Partner könnten dem scheidenden Gast durchaus auf die Sprünge helfen wollen, meint der leitende politische Kommentator der Financial Times, Philip Stephens.

Europa hat genug von Londons Forderungen nach Opt-Out-Klauseln und Ausnahmen von den EU-Regeln. Andere Regierungschefs haben ernste Angelegenheiten zu regeln, um den Euro zu retten. Wenn Großbritannien austreten will, dann sollte es das auch tun, wie man nun von Politikern des Festlands hört.

[...] Cameron hat die Vorschläge des italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti hinsichtlich einer engeren Zusammenarbeit in der Binnenmarktpolitik ignoriert. Der spanische Regierungschef Mariano Rajoy blickt eher nach Berlin als nach London. Frankreichs sozialistischer Präsident François Hollande wäre ohnehin nie ein Busenfreund geworden. Großbritanniens unverblümte Weigerung, zu irgendeinem der Unterstützungsmechanismen für den Euro beizutragen, verblüffte sogar enge Verbündete wie Schweden. Andere haben es satt, dass die Briten ihnen vorpredigen, wie sie ihre Angelegenheiten regeln sollen.

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