Im Didymóteicho-Krankenhaus in Evros, im Nord-Osten des Landes, August 2012

Griechenlands Robin-Hood-Ärzte

Die lange Reihe von Sparpaketen hat Hunderttausende griechische Arbeitslose um ihre Krankenversicherung gebracht – eine verzweifelte Situation, die Ärzte im Untergrund zu entlasten versuchen.

Veröffentlicht am 29 Oktober 2012 um 15:54
Im Didymóteicho-Krankenhaus in Evros, im Nord-Osten des Landes, August 2012

Als Chef von Griechenlands größter Onkologie-Abteilung dachte Dr. Kostas Syrigos eigentlich, er hätte schon alles erlebt. Doch nichts hatte ihn auf Elena vorbereitet, eine arbeitslose Frau, deren Brustkrebs ein Jahr bevor sie zu ihm kam diagnostiziert worden war.

In der Zwischenzeit war ihr Krebs auf die Größe einer Orange angewachsen und durch die Haut gebrochen. Die nässende Wunde legte Elena mit Papierservietten trocken. „Als wir sie sahen, waren wir sprachlos“, sagt Syrigos, Leiter der Onkologie-Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses von Athen. „Alle weinten. Solche Sachen stehen in Lehrbüchern, aber man sieht sie nie, weil bis jetzt jeder, der in diesem Land krank wurde, immer Hilfe bekommen konnte.“

„Arbeitslosigkeit bedeutet Tod“

Seitdem sich die Krise ausgebreitet hat, wurde das Leben in Griechenland auf den Kopf gestellt. Doch nur in wenigen Bereichen ist der Umbruch auffälliger als im Gesundheitswesen. Bis vor kurzem hatte Griechenland ein normales Gesundheitssystem. Wer seine Arbeit verlor, erhielt ein Jahr lang Gesundheitsversorgung und Arbeitslosengeld, wurde aber von den Krankenhäusern weiter behandelt, auch wenn er nach Ablauf der Leistungen nicht mehr dafür zahlen konnte.

Im Juli 2011 änderte sich das: Griechenland unterzeichnete ein zusätzliches Abkommen mit internationalen Kreditgebern, um den finanziellen Zusammenbruch abzuwenden. Nun müssen die Griechen, wie im Abkommen festgesetzt, alle Kosten selbst tragen, wenn ihre Leistungen abgelaufen sind.

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Rund die Hälfte der 1,2 Millionen Langzeitarbeitslosen in Griechenland hat keine Krankenversicherung. Es wird erwartet, dass diese Zahl in in dem Land mit einer Arbeitslosenquote von 25 Prozent und einer untergehenden Wirtschaft stark ansteigt, erklärt Savas Robolis vom Griechischen Allgemeinen Gewerkschaftsbund.

Die Änderungen zwingen immer mehr Menschen dazu, außerhalb des offiziellen Gesundheitssystems Hilfe zu suchen. Elena etwa wurde von Ärzten einer Untergrundbewegung zu Dr. Syrigos geschickt. Diese Bewegung schoss aus dem Boden, um den Versicherungslosen zu helfen. „In Griechenland bedeutet Arbeitslosigkeit heute den Tod“, sagt Syrigos, ein imposanter Mann mit strengem Auftreten, der beim Reden über die Not von Krebspatienten ganz sanftmütig wird.

Die beschriebene Entwicklung ist neu für die Griechen – und vielleicht auch für Europa. Besonders auffallend ist der Wandel in der Krebsversorgung, mit ihren langen, kostspieligen Behandlungen. Wenn bei nicht versicherten Personen die Krebsdiagnose fällt, „dann ignoriert das System sie einfach“, berichtet Syrigos. „Sie haben keinen Zugang zu Chemotherapie, Chirurgie oder auch nur zu einfachen Medikamenten.“

Aktion mit Ablaufdatum

Das Gesundheitsversorgungssystem selbst ist zunehmend gestört und könnte sich sogar noch verschlechtern, wenn die Regierung weitere 1,5 Milliarden Euro an Gesundheitsausgaben kürzt – wie sie es im Rahmen eines neuen Sparplans vorschlägt, um sich zusätzliche Finanzhilfen zu sichern. Die Staatskassen sind leer und es sind so wenige Sanitätsartikel vorhanden, dass manche Patienten ihr eigenes Zubehör wie Gefäßstützen oder Spritzen für ihre Behandlung mitbringen müssen.

Krankenhäuser und Apotheken verlangen nun Barzahlung für Medikamente, was sich für manche Krebspatienten auf Zehntausende von Euro belaufen kann. Die meisten von ihnen haben dieses Geld nicht. Mit dem zunehmenden Verfall des Systems haben Syrigos und mehrere seiner Kollegen deshalb beschlossen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Anfang des Jahres richteten sie ein heimliches Netzwerk ein, um Krebspatienten und anderen Kranken ohne Versicherung zu helfen. Es agiert außerhalb des offiziellen Systems und verwendet nur überschüssige Medikamente, die von Apotheken, manchen pharmazeutischen Unternehmen und sogar von den Familien verstorbener Krebspatienten gespendet werden. In Griechenland müssen Ärzte, die einer nicht versicherten Person mit Krankenhausmedikamenten helfen, die Kosten aus eigener Tasche bezahlen.

„Wir sind ein Robin-Hood-Netzwerk“, sagt Dr. Giorgos Vichas von der Städtischen Klinik für Sozialmedizin außerhalb von Athen. Vichas ist Kardiologe und gründete die Untergrundbewegung im Januar. „Doch diese Aktion hat ein Ablaufdatum“, erklärt er. „Irgendwann werden die Leute aufgrund der Krise nicht mehr spenden können. Deshalb setzen wir den Staat unter Druck, wieder Verantwortung zu übernehmen.“

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