Report Krise
„Das deutsche Modell!“ - Angela Merkel als Marianne, Symbolfigur der französichen Nation, die man als Büste in vielen öffentlichen Gebäuden des Landes sieht.

Der französische Patient

Die Bundesregierung bemüht sich kaum noch darum, zu verbergen, wie sehr sie sich um die Wirtschaftslage und die Reaktionsunfähigkeit ihres Nachbarn und bevorzugten Partners sorgt. In Paris begreift man dagegen zwar zunehmend, wie schlecht es um die Industrie steht, regt sich aber vor allem darüber auf, dass Deutschland so viel Druck ausübt.

Published on 12 November 2012 at 15:39
„Das deutsche Modell!“ - Angela Merkel als Marianne, Symbolfigur der französichen Nation, die man als Büste in vielen öffentlichen Gebäuden des Landes sieht.

Niemand weiß, ob die Bundesregierung ihre fünf beratenden Wirtschaftsweisen selbst darum gebeten hat, den Fall Frankreich genauer unter die Lupe zu nehmen, behauptet die Presse auf der anderen Seite des Rheins. Während die renommierten Wirtschaftsexperten ein solches Vorgehen selbst strikt dementierten, begnügte sich die Bundeskanzlerin mit der knappen und sonderbaren Erklärung: „Kein Kommentar“, die sie nicht unbedingt sehr viel glaubwürdiger erscheinen lässt. Aber selbst wenn man diesen Aspekt beiseite lässt, ist und bleibt allein die Tatsache, dass eine solche Untersuchung vermutlich angefordert wurde, aussagekräftig genug. Zumal sie zeigt, dass Berlin voller Sorge auf seinen Nachbarn schaut. Und leider lässt sich genau diese Sorge absolut nachvollziehen.

Als erstes reagiert man natürlich wütend. Dass gerade die Deutschen in Erwägung ziehen, uns Franzosen eine Lektion in Sachen Reformen erteilen zu wollen, kränkt uns nicht nur zutiefst, sondern ist obendrein auch noch sehr dreist. Vor zehn Jahren war die Bundesrepublik der „Kranke Mann Europas“ und hinkte in der Eurozone stets und ständig hinterher. Hätte Paris damals Ratschläge gegeben, wie [Berlin] seine katastrophalen Bevölkerungsstatistiken aufpolieren kann – um nur ein zufälliges Beispiel zu nennen – wären diese in Berlin höchstwahrscheinlich nicht nur auf offene Ohren gestoßen.

In einem zweiten Schritt macht man sich dann die innenpolitische Dimension einer solchen – möglichen – Initiative bewusst. Den fünf Weisen, die Angela Merkels Entscheidungen vor nicht allzu langer Zeit an den Pranger stellten, legt die Bundeskanzlerin also nahe: Vergleicht uns doch einmal [mit anderen] und Ihr werdet sehen, dass unsere Politik die Beste ist.

Frankreich muss Gas geben

Solche Spontanreaktionen mögen noch so verständlich sein, sie schaffen es dennoch nicht, das Wesentliche zu verbergen: Deutschland sorgt sich um unsere wirtschaftliche Situation, die seit drei Quartalen anhaltende Flaute, die Defizite und unsere Schwierigkeiten, angemessen zu reagieren, um diesen Trend umzukehren.

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Und leider hat [Deutschland] dazu guten Grund. Ein einziger Vergleich zeigt, wie verheerend die Lage ist: Laut Eurostat liegt die jüngste Arbeitslosenrate dort bei 5,4 Prozent, hier bei 10,8 Prozent.

Der wirkliche Unterschied aber liegt womöglich ganz woanders: Frankreich, und scheinbar auch François Hollande, gehen davon aus, dass die momentanen Schwierigkeiten nur von vorübergehender Dauer sind und alles irgendwie wieder ins Lot gerät, wenn sich der bisherige Konjunkturzyklus ab Mitte 2013, bzw. 2014 erst einmal umkehrt. Im Gegensatz dazu haben die Deutschen nicht nur schon längst verstanden, dass das, was wir „Krise“ nennen, vielmehr ein tiefgreifender historischer Umbruch ist, sondern sich auch darum bemüht, Mittel und Wege zu finden, um all dem die Stirn zu bieten.

Dabei brauchen wir sie eigentlich gar nicht, um uns klar zu machen, dass der Gallois-Bericht [zur Wettbewerbsfähigkeit der französischen Industrie] und das darauffolgende Regierungsprogramm die ersten Schritte in die richtige Richtung sind. Doch sind es nur die ersten Schritte. Einfach eine neue Wegbiegung zu nehmen, wird da nicht reichen. Wir müssen in der Kurve schon Gas geben.

Meinung

Verwarnung für den Zauberlehrling Hollande

„Achtung!“ titelt Libération. „In Deutschland macht man kein Geheimnis mehr daraus, wie schlecht man über Frankreichs Wirtschaftspolitik denkt und [schreckt nicht einmal davor zurück], die Alarmglocken zu läuten und davor zu warnen, welch Bedrohung Frankreich doch für Europa darstelle“. Für die Tageszeitung ist es „kein Zufall, dass die fünf Wirtschaftsweisen, welche die Bundesregierung beraten, das Hexagon in ihrem Jahresbericht unter Beschuss genommen haben, der am 7. November veröffentlicht wurde“.

Libération zitiert einen von ihnen, Lars Feld, der keinen Hehl aus seiner Sorge macht:

Das größte Problem in der Eurozone heißt inzwischen nicht mehr Griechenland, Spanien oder Italien, sondern Frankreich, weil es nichts unternommen hat, um seine Wettbewerbsfähigkeit wirklich wiederherzustellen, beziehungsweise sogar im Begriff ist, das genaue Gegenteil davon zu tun. Frankreich braucht Arbeitsmarktreformen. In der ganzen Eurozone ist es das Land, in dem am wenigsten gearbeitet wird.

Über einen „Hollande ohne Kompass“ berichtet unterdessen Die Welt. Für das Tagesblatt hat „Hollande inzwischen zehn Prozent seiner Amtszeit aufgebraucht, ohne dass er hätte erkennen lassen, wohin die Reise gehen soll.“ Infolgedessen zeichnet die Zeitung folgendes Bild:

Versuchte man, grafisch darzustellen, was diese Regierung beschönigend ihren „Kurs" nennt, käme dabei ein wirres mehrdimensionales Schaubild heraus wie jenes, das im neuen James-Bond-Film Skyfall aufflackert, als der Zauberlehrling Q versucht, den Code im Computer des Bösewichtes zu knacken: Als er es geschafft hat, fliegt ihm der eigene Laden um die Ohren.

Mit einer Portion Ironie beschreibt Die Welt François Hollandes „persönliche Obsession, auf gar keinen Fall irgendetwas so zu machen wie sein Vorgänger“, welche letztlich aber doch nur dazu führt, von Nicolas Sarkozy als gut befundenen Maßnahmen zu ergreifen – zumindest was die Unternehmenspolitik betrifft:

Die Sozialisten [...] müssten aber einräumen, eine Maßnahme getroffen zu haben, die Nicolas Sarkozy bereits im Frühjahr vorgeschlagen hatte: Der wollte die Senkung der Lohnnebenkosten durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, die „TVA sociale", erreichen. Doch dagegen hatte Hollande im Wahlkampf heftig polemisiert. Nun führt er sie selbst ein.

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