Der Tag ist zum Reden lang. Werden Taten folgen? Der britische Premier David Cameron mit Recep Tayyip Erdogan. Ankara, 27. Juli 2010

Bringt er die Türkei wieder auf den Tisch?

In einer seiner wichtigsten Europa-Reden hat der britische Premierminister den türkischen EU-Beitritt ausdrücklich befürwortet. Während die britische Presse dem ganz allgemein wohlgesonnen ist, zweifelt man auf dem Kontinent, und teilweise auch in der türkischen Presse, an den Auswirkungen seiner Erklärung.

Veröffentlicht am 28 Juli 2010 um 14:51
Der Tag ist zum Reden lang. Werden Taten folgen? Der britische Premier David Cameron mit Recep Tayyip Erdogan. Ankara, 27. Juli 2010

In seiner Rede am 27. Juli in Ankara erklärte der britische Regierungschef David Cameron wie ärgerlich er über die nur langsam voranschreitenden Verhandlungen sei, und versprach, sich für den Beitritt der Türkei in die EU einzusetzen. Der ehemalige Europaminister der Labour-Partei – Denis MacShane – freut sich im Guardian über diese Neuigkeiten. "Es ist zu begrüßen, dass David Cameron heute in Ankara an die Türkei-freundliche Politik seines Vorgängers Tony Blair angeknüpft hat", schreibt er und erinnert die Leser daran, dass es der ehemalige britische Premier war, der den "Europäischen Rat im Alleingang dazu bewegt hat, ein Anfangsdatum für die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei festzulegen".

Allerdings hat es Cameron mit "einer anderen politischen Landschaft der EU" zu tun, in welcher Deutschland und Frankreich – die einst für Blairs Initiative waren – dem EU-Beitritt der Türkei nunmehr ausgesprochen feindselig gegenüberstehen. MacShane macht darauf aufmerksam, dass "Camerons Entscheidung, sich von der großen Mitte-Rechts-Fraktion zu entfernen, in der Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, sowie fast alle anderen regierenden Parteien der EU Rücksprache halten, bedeutet, dass die britische Stimme in dieser europapolitischen Schlüsseldiskussion um die Türkei fehlt".

Unehrliche, entwürdigende Behandlung

Zudem legt sich die Türkei selbst Steine in den Weg, urteilt er. "Gestern erklärte der türkische Handelsminister, dass die Türkei sich über die EU-Sanktionen gegen den Iran hinwegsetzen, oder gar ganz platzen lassen könnte. Ob dieses Verhalten für eine Annährung wirklich angebracht ist?" Außerdem ist da noch die ewige Zypern-Frage: "Indem die Türkei es ablehnt, den legitimen zypriotischen Anliegen halbwegs entgegenzukommen, macht sie aus dem zypriotischen Kieselstein in ihrem Schuh einen Kaktus in Ihrer Unterhose." Nichtsdestotrotz – merkt er an – "verstecken sich die großen turkophoben europäischen Nation hinter dem griechischen und zypriotischen Eiertanz in Sachen Zypern."

Der konservative britische EU-Parlamentarier Daniel Hannan begrüßt Camerons Rede im Daily Telegraph und geißelt die EU für ihre "unehrliche und erniedrigende Weise", mit dem bevölkerungsreichen muslimischem Nachbarn umzuspringen. Für ihn ist die türkische Mitgliedschaft "strategisch wertvoll: Eine Möglichkeit, der wichtigsten muslimischen Demokratie der Welt den Rücken zu stärken, und damit vielleicht gleichzeitig den Euro-Föderalismus zu mindern."

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Warum sich an einen schwächelnden Teil der Weltwirtschaft binden?

Seit Beginn der Beitrittsverhandlungen im Oktober 2005 hat Brüssel jedoch nichts getan außer "falsche Versprechungen zu machen". "[Die EU] hat [die Türkei] dazu gezwungen, demütigende Reformen zu akzeptieren, die vom Status ihrer Minderheiten bis zur Geschichte der 1915 an den Armeniern verübten Massakern reichen. [Die EU] schilt |die türkische Regierung] als autoritär, wenn diese versucht, religiös-islamische Symbole in den Griff zu bekommen, und degradiert sie zu Fundamentalisten, wenn sie dies nicht tut."

"Wenn ich Türke wäre", schreibt der euroskeptische EU-Abgeordnete, dann "wäre ich gegen die Mitgliedschaft in der EU. Die Türkei ist ein dynamisches Land mit – in deutlichem Gegensatz zur EU – einer jungen Bevölkerung. Das letzte, was es braucht, ist eine 48-Stunden-Woche, eine gemeinsame Agrarpolitik, den Euro und den ganzen Rest des Brüsseler Korporatismus-Apparates. Warum sollte man sich einem schrumpfenden Teil der Weltwirtschaft anschließen, wenn es im Osten nur so vor neuen Märkte wimmelt?"

Dann lasst auch Kanada und die Amerikaner rein

Eine skeptische Frankfurter Allgemeine Zeitung greift Camerons Behauptung heraus, dass es nicht sein könne, dass ein NATO-Land, das auch in Afghanistan kämpft, dazu verpflichtet sei, "dass Lager zu bewachen, ohne sich im Inneren des Zeltes setzen zu dürfen". Wenn die Mitgliedschaft in der NATO ein Kriterium für den Beitritt sei, dann "sollte die EU auch die Kanadier aufnehmen – und wenn schon, denn schon auch die Amerikaner. Die einen wie die anderen verbindet mit Europa so wenig nicht; und geographisch ist die Türkei nur in einer Winzigkeit 'europäisch'. Aber im Ernst: Warum glaubt Cameron eigentlich, und zwar mit Begeisterung, die EU gefahrlos überdehnen zu können? Der britische Dissens mit Paris und Berlin ist groß – und im Kern nicht zu überbrücken."

Diein der Istanbuler Tageszeitung Zamanschreibende Amanda Paul weist darauf hin, dass "der bisherige Weg [zur EU] sehr holprig war. Damit ist gemeint, dass sich die Türkei anstatt der 'Autobahn' nach Brüssel eher für die 'landschaftlich reizvolle Straße' entschieden hat." Sie merkt an, dass "die wichtigsten Mitgliedsstaaten [der EU] die Türkei gut und gerne als wertvollen Partner von wichtiger strategischer Bedeutung betrachten mögen, gleichzeitig aber glauben, dass sie ganz einfach zu anders ist". Offensichtlich trifft das EU-Motto " Stärke durch Vielfalt" nicht für die Türkei zu, stichelt sie.

EU und Türkei in der Achterbahn

Wird Camerons Rede konkrete Veränderungen bewirken? "Die Türkei könnte ihn darum bitten, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Das könnte beispielsweise dadurch geschehen, dass man ihn direkt auf die Zypernfrage anspricht." Jedoch meint sie, dass das wahre Problem folgendes ist: Auch wenn man es noch so gut meint, wird die negative Wahrnehmung der Türkei – als einem Land, welches "massive Veränderungen" durchmacht – fast immer die Oberhand gewinnen. "Die Türkei gilt überwiegend als ganz netter Standort, an dem man Urlaub machen kann. Aber keineswegs als ein Land, von dem man möchte, dass es zu unserem Verein gehört."

Für Paul "fahren die EU und die Türkei auf einer Achterbahn. Zahlreiche Hochs und Tiefs hat es bereits gegeben. Und viele weitere werden in Zukunft hinzukommen. Unglücklicherweise kommen Achterbahnen niemals irgendwo an. Sie sind dafür bestimmt, immer im Kreis zu fahren und gelegentlich anzuhalten. Und genau das könnte auch der Fall der Beziehungen zwischen EU und Türkei sein". (jh)

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