Sind die Jungen einfacher zu manipulieren? Demonstrant gegen die Regierung in Bukarest, 19. Januar 2012.

Rabenkinder der Demokratie

Für Rumäniens junge Erstwähler, die am 9. Dezember an den Parlamentswahlen teilnehmen, steht Politik mehr für die Kungeleien der aktuellen Führungsriege als für das Erbe aus der Revolte gegen Ceauşescu. Für wen werden sie stimmen?

Veröffentlicht am 28 November 2012 um 12:35
Sind die Jungen einfacher zu manipulieren? Demonstrant gegen die Regierung in Bukarest, 19. Januar 2012.

Der 25. Jahrestag des Arbeiteraufstandes von Brasov/Kronstadt [ein Protestmarsch gegen das Ceauşescu-Regime im Jahr 1987, bei der 300 Demonstranten verhaftet wurden] ist in Rumänien fast ohne öffentliche Wahrnehmung verstrichen, obwohl die soziale Wirklichkeit im heutigen Rumänien diesem Datum mehr Symbolkraft hätte beimessen müssen.

Das mangelnde Interesse an einem der wichtigsten Ereignisse der jüngsten Geschichte kann unterschiedlich gedeutet werden. Ich möchte hier aufzeigen, in welchem Maße dieses Quasi-Vergessen Bände darüber spricht, in welche Richtung sich die rumänische Gesellschaft bewegt. Die 25. Wiederkehr der Arbeiterrevolte hätte für die Gewerkschaften ein willkommener Anlass für Aktionen sein können. Stattdessen haben sie einmal mehr gezeigt, wie wenig repräsentativ sie sind und wie sehr sie andere Interessen als die der Arbeitnehmer vertreten.

Auch die Regierung in Bukarest hat den Jahrestag schlicht ignoriert, ganz anders als noch vor fünf Jahren, und auch im völligen Gegensatz zum demonstrativen Geschichtsinteresse vor einigen Wochen, als der Königs Michael I. zwar keinen runden Geburtstag feierte, aber immerhin das stolze Alter von 91 Jahren erreiche. Dieser Gegensatz macht deutlich, wie tief verankert das Vergessen in der Identität derer ist, die an der Regierung sind.

Land ohne politische Identitäten

Dabei eignet sich der Aufstand von 1987 noch viel besser als das von Komplotten gebeutelte Jahr 1989 dazu, der jungen Generation als Symbol der Revolte gegen die Repressionen des kommunistischen Systems zu dienen. Dass dies jedoch nicht geschehen ist, lässt vermuten, dass die heutige politische Klasse sich der ehemaligen Nomenklatura verbundener fühlt als den Arbeitern aus Brasov, die sich 1987 aufgelehnt haben und 1990 entlassen wurden.

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In der Presse liest man überall von den schmutzigen Geschäften von heute. Aber die Allerjüngsten, die eben nur das kennen, sind einfacher zu manipulieren, weil ihnen Kenntnisse über die jüngste Geschichte fehlen, der eine Schlüsselrolle für das richtige Verständnis der Situation zukommt.

In einem Land ohne politische Identitäten, in dem alles wie ein Provisorium erscheint, kann nur die Erfahrung bestimmter historischer Ereignisse als Anker dienen, um der Manipulation widerstehen zu können. Unabhängig von der jeweiligen Brille, durch die man das Erlebte betrachtet, hat man in Rumänien daraus die Lehre gezogen, dass dem Land nur die europäische Möglichkeit bleibt.

Diese Generation, die in der Übergangszeit geboren wurde aber ist anders. In diesem Jahr werden erstmals die bis 1994 Geborenen zur Wahl gehen. Wir sollten einmal darüber nachdenken, welche Ereignisse diese Menschen geprägt haben. In der chronologischen Rückschau scheinen die wichtigsten Ereignisse dieses Jahres das Referendum vom Juli[2012] über die Amtsenthebung von Präsident Băsescu und die Demonstranten auf den Hauptplätzen vieler Städte im Januar und Februar gewesen zu sein.

Jeder Wille zur Veränderung instrumentalisiert

Man kann festhalten, dass im Dezember 2011 Traian Băsescu genauso lange an der Spitze des rumänischen Staates stand, wie Ion Iliescu, und dass dieses Jahr das achte seiner Präsidentschaft ist. Die jüngste Generation ist in eine politische Atmosphäre der parteiischen Massenmedien hineingeboren worden, die der Interpretation der politischen Ereignisse ihren Stempel aufgedrückt hat und gespalten ist in Befürworter oder Gegner Băsescus. Selbst wenn diese Spaltung der politischen Konjunktur geschuldet ist, so ist sie umso bedeutender für die neue Generation, denn auch das Bildungswesen hat sie entscheidend mitgeprägt.

Ob Lehrer an Grundschulen, an Gymnasien, an staatlichen oder privaten Hochschulen, die Mehrheit derer, die an der Bildung der Jugendlichen mitgewirkt haben, sehen sich selbst als „Opfer“ der direkten oder indirekten Politik des Präsidenten.

Verallgemeinerungen sind gefährlich, und natürlich gibt es immer auch Ausnahmen. Aber historisch kann man durchaus davon sprechen, dass die Generation der Übergangszeit die erste ist, die ihr politisches Erwachen im Widerstand zu einer Politik erlebt hat, die trotz aller verdammungswürdigen Fehler reformorientiert genannt werden kann.

Auch die Anti-Băsescu-Generation will den Wandel. Aber ihr Veränderungswille wurde zugunsten der Reformgegner instrumentalisiert. Auch sie sehnt sich nach „Europa“. Aber ihre Energie wurde von jenen instrumentalisiert, denen der national-populistische Diskurs näher ist als eine pro-europäische Bestimmung.

Der Realitätsschock wird erst nach dem 9. Dezember seine volle Schlagkraft entfalten. Er wird stärker sein, als das Erfahrungsnetz, in dem sich diese so stark von der Anarchie des Übergangs gezeichnete Generation verfangen hat. Und niemand vermag heute vorauszusagen, welchen Sinn ihr Aufstand von morgen haben wird.

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