Beim Besuch des spanischen Königspaars in Melilla, November 2007.

Melilla, Marokkos europäischer Traum

Für Rabat ist die spanische Enklave Melilla besetztes Gebiet. Die vielen dort arbeitenden Marokkaner hängen jedoch an ihrer Besonderheit und möchten keine Statusänderung.

Veröffentlicht am 5 August 2010 um 14:20
Beim Besuch des spanischen Königspaars in Melilla, November 2007.

Im Café Del Real ist eine Hochzeit in vollem Gange. Drei der Gäste – Mina, Aziza und Karim – haben entweder die Hälfte oder ihr ganzes Leben in Melilla verbracht. Sie sind marokkanischer Herkunft, verhalten sich aber wie Spanier. "Wenn Marokko hier die Gesetze entscheidet, mache ich mich ans andere Ufer auf", sagt Karim und meint damit das spanische Festland. In einem Punkt sind sie jedoch marokkanisch: Mina, Aziza und Karim möchten nicht, dass ihr Familienname in der Zeitung steht. Das, was sie über Melilla sagen, widerspricht nämlich der offiziellen Position des marokkanischen Staates, und sie möchten nicht, dass ihre Familien in Marokko in Schwierigkeiten kommen.

80.000 Menschen leben auf den von Stacheldraht umzäunten zwölf Quadratkilometern von Melilla. Für Marokko sind sie eine heikle Angelegenheit. Rabat betrachtet sie als besetztes Gebiet – ein Standpunkt, den Regierungschef Abbas al-Fassi kürzlich bestätige. Nach seinem Anruf bei der spanischen Regierung, bei dem von der "die Besetzung" Melillas und Ceutas die Rede war – der anderen spanischen Enklave im Norden Marokkos –, reagierte Spanien sofort. "Die spanische Hoheitsgewalt und der spanische Charakter" von Ceuta und Melilla stehe nicht zur Debatte.

Für Marokko ist Melilla ein Relikt aus der Kolonialzeit

Mina, Aziza und Karim kommen in den Genuss der spanischen Demokratie, des qualitativ guten Schulunterrichts und der erschwinglichen Krankenbehandlungen. Zudem sind die Gehälter hier höher als jenseits der Grenze. "Auch sind viele Produkte in Marokko teurer. In Melilla kostet ein Liter Milch 50 Cent. In Marokko dagegen 80", erklärt Aziza. Für die Marokkaner Melillas gibt es keinen Grund, sich ein Ende ihres schönen Lebens hier zu wünschen.

Die Hochzeitsfeier im Café Del Real ist international: Die Braut, Rabiaa, ist Marokkanerin. Ihr Bräutigam, Juan Miguel, Spanier. Für Antonio Portillo Gómez, der viel Zeit in diesem Café verbringt, "ist die gesamte Bevölkerung Melillas multikulturell". "Hier gab es zahlreiche Zivilisationen. Melilla hat eine lange Geschichte, die weit vor der Machtübernahme der Marokkaner begann. Warum betrachtet Marokko also Ceuta und Melilla als marokkanisch?" Schon 1497 gehörte Melilla zu Spanien. Ceuta seit 1578. Im vergangenen Jahrhundert vergrößerte das spanische Königreich seinen Einfluss im gesamten Norden Marokkos. Als das Land 1956 jedoch die Unabhängigkeit erlangte, gab Spanien dieses Gebiet zurück – mit Ausnahme Ceutas und Melillas und drei winziger Inseln vor der marokkanischen Küste, die seit Jahrhunderten zu Spanien gehören.

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Aus spanischer Sicht ist die momentane Situation – unter Berücksichtigung der Geschichte – nur gerecht. Marokko denkt da anders. Als der spanische König Juan Carlos im November 2007 erstmals nach Ceuta und Melilla reiste, löste er eine diplomatische Krise aus. Marokko berief seinen Botschafter in Spanien ab und Regierungschef al-Fassi erklärte, dass die Kolonialzeit "unwiderruflich" und längst vergangen sei. So nimmt Marokko die Situation wahr: Als Überbleibsel des kolonialen Zeitalters. Daher ist es entschlossen, sich beide Enklaven zurückzuholen. Der Hafen Tanger-Med wurde genau neben Ceuta errichtet und ein weiterer Hafenkomplex wird derzeit ganz in der Nähe Melillas errichtet. So sollen die wirtschaftlichen Aktivitäten der Enklaven eingeschränkt werden, bis sie so kostspielig werden, dass Spanien sie sich nicht mehr leisten kann.

Täglich kommen 12.000 Marokkaner nach Melilla

Doch die beiden kleinen Gebiete kommen Spanien sowieso schon sehr teuer zu stehen: Zum einen reizen ihre Steuervorteile viele Spanier der iberischen Halbinsel. Zum anderen sind die Gehälter für die Angestellten des öffentlichen Dienstes dort höher. Gegenwärtig ist die finanzielle Situation der Enklaven jedoch recht gut. Zu verdanken ist dies vor allem den Marokkanern. Diejenigen, die in der Nähe der Enklaven wohnen, brauchen für die Einreise kein Visum. So kommen täglich etwa 12.000 von ihnen nach Melilla. Hier kaufen sie preiswerte Artikel wie Milch, Shampoo und Decken, um sie – mit einem kleinen Gewinn – auf marokkanischer Seite wieder zu verkaufen.

Der französische Fernsehsender M6 strahlte im April eine Reportage über die Maultier-Frauen [Femmes-mulets] aus. Das sind marokkanische Frauen, die – auch wenn sie schwanger oder schon sehr alt sind – 60 bis 80 Kilogramm Waren auf ihrem Rücken transportieren. Wie Vieh treibt die Polizei sie manchmal nahe der spanischen Grenze mit Schlagstöcken zusammen. Die marokkanische Zeitung Akhbar Alyoum bezeichnete den Dokumentarfilm als "schockierend".

Werden die Marokkaner von den Spaniern Melillas diskriminiert? "Aber nein. Überhaupt nicht", meint Karim. Das zumindest würden die Bewohner gern glauben: dass Melilla ein multikulturellerer Modellstaat ist. Jedoch wissen sie, dass die Spanier der Halbinsel von oben auf sie herabblicken, weil sie in Afrika leben, trösten sich aber mit dem Bild ihres gemeinsamen Zusammenlebens. Sie mögen das Bild einer zivilisierten Oase in einer Wüste voller Barbarei. "In Marokko haben die Frauen keinerlei Recht auf Meinungsäußerung. Das ist hier anders", prahlt eine spanische Bewohnerin Melillas. (jh)

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