Nachrichten Vorratsdatenspeicherung
Iliad, der Datenbearbeitungsprovider, der Presseurop.eu beherbergt, Vitry-sur-Seine bei Paris.

Brüssels großer Speicher

Was die Europäische Union den Internetnutzern und Datenschutzaktivisten mit der einen Hand gibt, nimmt sie mit der anderen Hand wieder zurück, findet ein irischer Journalist. Er berichtet über den plötzlich angeschwollenen Widerstand gegen die zunehmende Überwachung persönlicher Daten.

Veröffentlicht am 9 August 2010 um 17:01
Iliad, der Datenbearbeitungsprovider, der Presseurop.eu beherbergt, Vitry-sur-Seine bei Paris.

Die EU hat für Datenerfassung, -verwendung und -verkauf durch Online-Unternehmen striktere Beschränkungen als die USA, doch sie verlangt von den Internetanbietern auch, dass sie persönliche Daten speichern, falls die Regierung eines Tages über einen bestimmten Anwender ermitteln will. Das Europäische Parlament erwägt derzeit die Verabschiedung einer Erklärung namens Smile29, das die Suchmaschine Google – welche jeden Monat europaweit Billionen von Suchen ausführt – ebenfalls dazu zwingen würde, Vorratsdaten über ihre Anwender zu speichern.

Mit diesen Bemühungen ist die EU nur die letzte in einer Reihe von Regierungen weltweit, die anhand des Online-Verhaltens ihrer Bürger mehr über sie erfahren wollen. Nach Ansicht der Kritiker will die EU durch diese Regelungen mehr Kontrolle ergattern, was wiederum eine quer durch Europa laufende Widerstandsbewegung auslöste. Nun fordert eine Gruppierung in Irland das neue Regime heraus – und ersucht von den irischen Gerichten die Erlaubnis, die Angelegenheit vor den Europäischen Gerichtshof (EGH) zu bringen. So soll vermieden werden, dass sich die weiter tragenden europäischen Normen im irischen Gesetz niederschlagen. Sollte Digital Rights Ireland mit seinem Argument, diese Gesetze verstießen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, Recht bekommen, dann wäre dies ein Präzedenzfall für ganz Europa. "Was wir vor allem wollen, ist die Aufhebung unserer Datenspeicherungsgesetze", erklärt T.J. McIntyre, Rechtsdozent am University College in Dublin und Leiter der Organisation. McIntyre ist der Meinung, die besagten Gesetze machten gewöhnliche Bürger zu Kriminellen.

Die Privatsphäre im Netz ist zu einem entscheidenden Kampfplatz um Bürgerrecht geworden. Facebook und Google sammeln kolossale Mengen an Daten über Gedanken, Wünsche und Regungen ihrer Anwender, die von den Firmen heiß begehrt und auch teuer bezahlt werden. Doch in ganz Europa werden Reaktionen gegen das Speichern von privaten Daten laut. Zivilgesellschaftliche Gruppierungen wie der Europäische Journalistenverband kritisierten diese Praktik und in Deutschland verklagten fast 35.000 Personen, darunter Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, diesbezüglich ihre eigene Regierung. "Wir haben heute in Europa ein echtes Problem. Das verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, die besagt, dass jeder das Recht auf Privatleben hat. Dieses Grundrecht muss sich auch auf das digitale Leben erstrecken", sagt Christian Engström, Europarlamentarier für Schwedens umstrittene Piratenpartei, die aufgrund ihrer Verfechtung digitaler Rechte zu ihren Stimmen kam.

EU-Position? - Nur Nebel

In Irland müssen telefonische Daten heute drei Jahre lang aufbewahrt werden, doch es gibt noch keine Auflagen für Internetanbieter, Daten aufzubewahren. Genau das wollen sowohl die EU als auch die irische Regierung ändern. Laut McIntyre hat die Regierung bereits die Oberhand. "2002 führte die irische Regierung insgeheim eine Vorratsdatenspeicherung ein. Sie tat dies durch einen Ministerialerlass, der bis heute vom Justizministerium noch nicht bestätigt wurde." McIntyre erwartet vom EGH eine Entscheidung über den Fall.

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Die EU selbst scheint geteilter Meinung zu sein, wenn es um die Privatsphäre im Internet geht. Die Kontroll- und Überwachungsbehörden wurden zwar stark erweitert, doch das EU-Organ, das sich bemüht, die Vorratsdatenspeicherung mit Hilfe von Smile29 auch auf Suchmaschinen auszudehnen, beschwerte sich in einem Bericht, dass die EU-Mitgliedsstaaten bereits mehr Informationen über ihre Bürger speichern als sie eigentlich dürften und "kaum Statistiken über die Verwendung der dank dieser Richtlinie gespeicherten Daten geliefert haben, wodurch es nur begrenzt möglich ist, die Zweckmäßigkeit der Datenspeicherung zu prüfen."

Die Gruppierung tritt für wesentliche Änderungen im Gesetz ein, darunter eine Kürzung der maximalen Aufbewahrungszeit, eine allgemeine Überarbeitung der Sicherheit von Verkehrsdaten durch die Europäische Kommission, die Klärung des Begriffs "Schwerverbrechen" auf Ebene der Mitgliedsstaaten, und "die Bekanntgabe aller zum Datenzugang befugter Einheiten an alle relevanten Interessengruppen". Engström von der Piratenpartei meint, das Problem mit der EU sei ein Demokratiedefizit: "Die größte Macht liegt bei den Kommissaren und [anderen] ungewählten Beamten."

Und wenn der Falsche beschuldigt wird?

Engström weist auch auf das Problem der verschiedenen Bürokratien der EU hin, die sich oft in den Haaren liegen. "Es ist wichtig zu erkennen, dass hier kein ‚Übel’ am Werk ist; es gibt keinen Dark Lord, der die Fäden zieht. Doch die EU hat sich verschiedenen Interessengruppen stark angenähert und in Verbindung mit einer ungewählten Exekutive ist das sehr beunruhigend." Engström ist der festen Überzeugung, die Strafverfolgungsbehörden suchten nur deshalb Zugang zu Daten, weil es ihn eben gibt: "Das hat alles nichts mit echter Polizeiarbeit zu tun. Nur herumwurstelnde, wirklich idiotische Kriminelle könnten von diesen Maßnahmen erfasst werden. Echte Verbrecher wissen, wie man sie umgehen kann." Er verweist auch auf das Risiko der falschen Anschuldigungen und beschwert sich, dass das Datamining auf kaum mehr als Mustererkennung hinausläuft: "Das menschliche Gehirn ist fantastisch, wenn es darum geht, Muster zu erkennen – selbst wenn es gar keine gibt."

In Irland will McIntyre genau aus diesem Grund weiterkämpfen: "Eine automatische Verbrechensaufklärung ist unmöglich. Aus irgendwelchen Gründen haben sich die Strafverfolger in dieses Konzept vernarrt. Ähnlich ist auch der Gedanke, die Leute schon vorher zu stoppen. Beim Datamining entstehen zu viele Falschmeldungen. Aus kommerzieller Perspektive ist das nicht so schlimm – wen schert es schon, wenn auf der Facebook-Seite eine irrelevante Werbung auftaucht? Doch beim Terrorismus etwa geht es nur um eine verschwindend kleine Anzahl von Personen, da gibt es einfach nicht genug Daten zur Fallanalysierung der Leute." (pl-m)

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